Schon länger muss sich Israel des Vorwurfs erwehren, es begehe im Gazastreifen einen Völkermord. Nun haben zwei israelische Organisationen eine Studie vorgelegt, die den Genozid-Vorwurf untermauern soll.

Für zwei wichtige israelische Menschenrechtsorganisationen ist der Fall klar: Im Gazastreifen passiert ein Genozid. B'Tselem, eine Organisation, die schon seit Jahren die israelische Besatzung kritisiert, und die NGO Physicians for Human Rights, die sich auf den Gesundheitsbereich konzentrieren, kommen in ihren Berichten zu ganz ähnlichen Ergebnissen.

Yuli Novak, die Direktorin von B'Tselem, sagt, warum ihrer Meinung nach jetzt von einem Genozid gesprochen werden muss:

"Das Wesentliche ist: Es geht um koordinierte Angriffe mit dem Ziel, eine ganze Gruppe zu zerstören. Es gibt unterschiedliche Taktiken und Praktiken, aber das Ziel ist dasselbe. Wir sehen massenhaftes Töten, von dem wir alle dachten, das werde es nicht geben. Direktes Töten. Tausende oder hunderte Menschen zu töten, ist kein Kollateralschaden. Das passiert wieder und wieder und wieder über Monate. Millionen Menschen auszuhungern, ist kein legitimer Akt in einem Krieg."

Die Berichte sprechen von systematischer Tötung, von Zerstörung von Lebensgrundlagen der Palästinenser im Gazastreifen und führen zahlreiche Belege an, die eine Vernichtungsabsicht Israels untermauern sollen.

Angriffe auf Kliniken mit Kaskadeneffekt

Für Guy Shalev, den Direktor von Physicians for Human Rights, war das nicht leicht. Denn er sei selbst, sagt er, ein Nachfahre von Überlebenden des Holocaust. Nun hat er israelische Angriffe auf 27 Krankenhäuser im Gazastreifen dokumentiert.

Große Teile des Gesundheitssystems dort wurden seinem Bericht zufolge systematisch zerstört. Mehr als 1.500 Ärzte seien im Gazastreifen getötet worden. Und die wenigen Krankenhäuser, die noch funktionieren, hätten große Probleme, die rund 140.000 Verletzten zu versorgen.

"Das Problem mit dem Angriff auf das Gesundheitssystem ist sein Kaskadeneffekt. Ein Krankenhaus bricht zusammen, dann müssen Menschen in andere Gebiete fliehen, dann kommen sie in andere Krankenhäuser, die bereits in einem sehr schlechten Zustand sind, und schließlich brechen sie zusammen. Und dann erleben wir das monatelang, während internationale Organisationen, Regierungen weltweit Israel auffordern, diesen Angriff auf das Gesundheitswesen zu beenden."

Israels Armee hatte bei Angriffen auf Krankenhäuser oft angegeben, darin befänden sich Kommandozentralen der Hamas. Shalev sieht dafür keine Beweise.

"Wir alle wissen: Wenn Israel Beweise für die Nutzung dieser Krankenhäuser durch die Hamas gefunden hätte, hätten wir sie gesehen. Sie würden es doch wollen, dass wir sie sehen, oder? Aber das haben wir nicht. Was also bleibt, ist ein umfassender Angriff auf ein ganzes System, eine Delegitimierung des gesamten Systems. Das Ergebnis ist, dass mehr als zwei Millionen Menschen keinen Zugang mehr zur Gesundheitsversorgung haben. Das ist völlig unverhältnismäßig und Teil dessen, was wir als Völkermord bezeichnen."

Zerstörungsabsicht im Sinne der Genozidkonvention?

Kai Ambos, Völkerrechtler der Universität Göttingen, hat die Berichte gelesen. Für ihn sind sie ein weiterer Beleg dafür, dass es Angriffe auf Palästinenser als Gruppe und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage gibt. Aber er sieht auch Mängel.

"Die große Frage ist, ob dann auch eine Zerstörungsabsicht im Sinne der Genozidkonvention vorliegt, die Absicht, eine bestimmte Gruppe zu zerstören. Das müsste man ja dem Staat Israel nachweisen beziehungsweise den Repräsentanten dieses Staates. Da gibt es eben verschiedene Voraussetzungen, die meines Erachtens in den Berichten nicht explizit genug untersucht werden."

Yuli Novak, die Direktorin von B'Tselem, will hingegen nicht warten, bis internationale Gerichte in einigen Jahren darüber entscheiden, ob im Gazastreifen ein Völkermord geschieht.

"Ich denke, wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Frage, was ich angesichts dessen getan hätte, keine theoretische mehr ist. Hier sind wir also. Was bedeutet es, in einem solchen Moment Mensch zu sein? Seit fast zwei Jahren beobachten wir Regierungen, vor allem westliche, die Israel unterstützen, kooperieren und diesen Völkermord ermöglichen. Ohne die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft könnte dieser Völkermord, wie jeder andere in der Geschichte, niemals stattfinden. Und sie stehen daneben und tun im Grunde nichts oder geben nur Lippenbekenntnisse ab, um ihn abzuwenden. Aber das geht weiter. Jeder sieht es. Niemand wird sagen können: 'Wir wussten es nicht'. Wir wissen es. Es geschieht jetzt, und es muss sofort gestoppt werden."

Die Definition von Völkermord Die UN-Völkermordkonvention definiert in Artikel 2 den Begriff des Völkermords wie folgt:

"In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe." Jan-Christoph Kitzler, tagesschau, 28.07.2025 11:22 Uhr

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