"Diese Luftbrücke ist sinnlos"
Eine Luftbrücke in den Gazastreifen ist nicht nur sinnlose Geldverschwendung, sondern sogar kontraproduktiv, meint Ralf Südhoff, Experte für humanitäre Hilfe. Stattdessen solle Deutschland politischen Druck auf Israel ausüben.
tagesschau24: Zu Beginn möchte ich Sie um eine Einschätzung bitten: Wie groß ist die Hungersnot in Gaza?
Ralf Südhoff: Die Hungersnot in Gaza ist dramatisch. Das ist auch etwas, was man nicht leicht dahin sagt. Der Begriff der Hungersnot ist definiert, damit man ihn eben nicht missbraucht, um jede Krise so zu nennen.
Eine Bedingung ist zum Beispiel: Wir sprechen von einer Hungersnot, weil mindestens jedes dritte Kind in Gaza massiv unterernährt ist. Und sehr, sehr viele sind schon gestorben. Quasi jeder hat zu wenig zu essen in Gaza.

"Die Luftbrücke schadet der eigentlich wirksameren Hilfe"
tagesschau24: Unter anderem das Deutsche Rote Kreuz und Plan International kritisieren die angedachte Hilfe per Luftbrücke als unzureichend und gefährlich. An der Grenze zum Gazastreifen stünden zudem Tonnen von humanitären Hilfsgütern, die auf dem Landweg zu den notleidenden Menschen kommen könnten. Schließen Sie sich der Kritik dieser Hilfsorganisation an?
Südhoff: Absolut. Ich würde sogar noch weitergehen. Ich glaube, diese Luftbrücke ist sinnlos. Es ist Geldverschwendung. Sie schadet sogar der eigentlich wirksameren Hilfe, die möglich wäre. Und es ist wirkt auch wie eine Symbolpolitik, um etwas zu tun, was gut sichtbar ist, während man viel wirksamer auf dem Landweg helfen kann.
Ich selbst war vor einigen Jahren für das Welternährungsprogramm der UN, das WFP, in Jordanien stationiert. Normalerweise ist es zuständig für Luftbrücken. Hier gilt die goldene Regel, dass man eine Luftbrücke einsetzt, wenn es keinen anderen Weg gibt, um ein Krisengebiet zu erreichen. Das ist hier in keiner Weise der Fall.
Eine Luftbrücke mit Israel, das gleichzeitig so wenig Lastwagen über die Grenze lässt, macht gar keinen Sinn. Man müsste nur die tatsächlich Tausenden von bereitstehenden Lastwagen, die mit Hilfsgütern und Nahrungsmitteln für drei Monate beladen werden können, über die Grenze lassen, die dann wenige Kilometer zurücklegen müssten.
Eine Luftbrücke ist zudem ineffektiv. Die Hilfsgüter landen vielfach im Wasser. Sie erreichen eher die Stärksten, nicht die Schwächsten, die Kinder und Frauen.
Und es ist eine Geldverschwendung, weil genau das Geld, das sie für die Luftbrücke einsetzen werden, für die eigentliche Hilfe nicht mehr haben. Deutschland hat sein humanitäres Budget in diesem Jahr halbiert. Das heißt, wir haben wahrlich nicht Geld zu verschenken.
"Deutschland scheut sich, Druck auszuüben"
tagesschau24: Warum fokussiert sich die deutsche Regierung dann auf die Hilfe aus der Luft und nicht auf die über Land?
Südhoff: Deutschland scheut sich jenseits von Appellen weiterhin, Druck auf die israelische Regierung auszuüben. Und so eine Luftbrücke wirkt natürlich gut. Es wirkt aber wie Aktionismus. Man sagt ja seit Monaten, man schaue sich die Entwicklung an, man möchte, dass mehr Hilfe geleistet wird.
Aber die Erfahrung der vergangenen anderthalb Jahren zeigt, dass Israel immer nur auf Druck reagiert hat. Nur deshalb wird jetzt wieder ein bisschen Hilfe über Land zugelassen.
Sobald sich aber die politischen Interessen insbesondere von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ändern - der diesen Krieg braucht, weil er seine Immunität aufgrund drohender Korruptionsprozesse braucht -, wird er die Hilfe wieder stoppen, so wie er es in den vergangenen drei Monaten getan hat.
Als die Waffenruhe beschlossen war, kam Hilfe in den Gazastreifen. Dann hat die israelische Regierung sie für fast drei Monate wieder komplett gestoppt. Man muss Druck ausüben. Anderweitig wird den Menschen, die wirklich in einer Hungersnot sind, nicht zu helfen sein. Stattdessen drohen sie, vertrieben zu werden.
"Bestätigt, dass die Hilfe sehr effektiv war"
tagesschau24: Was könnte Deutschland tun, damit Lieferungen per Lkw über Land sicher bei den Menschen, die die Hilfen brauchen, ankommen? Und nicht etwa in die Hände der Hamas geraten, die sie unter Umständen sogar mit Waffengewalt gegen Hungernde verteidigen?
Südhoff: Ob die Hilfslieferungen ankommen, ist ein wichtiges und zentrales Thema seit Beginn dieses Konflikt. Es ist aber auch kein untypisches Thema: Wir haben ganz ähnliche Diskussionen auch in anderen Krisen - die Situation im Gazastreifen ist offenkundig auch gar nicht so anders. Auch wenn es gerne insbesondere aus Jerusalem so beschrieben wird.
Mehrere israelische Offizielle haben in den vergangenen Tagen in einem langen Bericht in der New York Times bestätigt, dass die Hilfe, die die UN geleistet hatte, vor Ort sehr effektiv war und weitgehend ankam.
Es wird immer Diebstähle geben, sie werden in so einer Krise immer Beschlagnahmung von einer Konfliktpartei haben. Da dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben. Der Spruch, dass jeder Euro ankommt, ist einfach Unsinn. Aber das kann auch nicht unsere Erwartung sein. Wir reden hier von Hilfe in einem Krieg, die zum allergrößten Teil Leben gerettet hat und weiter jeden Tag retten könnte und müsste.
Deswegen müsste Deutschland seine politische Kraft einsetzen, Druck auf Israel auszuüben. Oder, und das ist die eigentliche Frage, sich nicht den europäischen Partnern in den Weg stellen, die das seit vielen Wochen versuchen und immer wieder auf Widerspruch in Deutschland stoßen. Ein gemeinsames Vorgehen mit den europäischen Partnern, statt sich quer zu stellen, wäre ein entscheidender Schritt.
Das Gespräch führte Ralph Baudach, tagesschau24. Das Interview wurde für die schriftliche Fassung leicht angepasst.
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