Der Ukraine-Experte Andreas Umland rechnet nicht damit, dass die Gespräche mit Russland über die Ukraine erfolgreich sein werden - weil Moskau unakzeptable Forderungen stellt. Das Treffen in Washington sei aber dennoch positiv zu bewerten.

tagesschau.de: Im ARD-Morgenmagazin hat der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, gesagt, es seien wirklich sehr gute Bilder aus Washington gewesen. Wie sehen Sie es als Wissenschaftler?

Andreas Umland: Ich sehe das auch so. Wir haben zwar bisher keine großen und konkreteren Resultate. Aber das Atmosphärische halte ich für wichtig.

Zum einen ist das Verhältnis zwischen Wolodymyr Selenskyj und Donald Trump scheinbar wiederhergestellt. Perspektivisch ist noch wichtiger, dass es beim Washingtoner Treffen ein Gefühl der Einheit und Gemeinsamkeit zwischen den USA und Europa gab. Zumindest im öffentlichen Part dieser Gespräche hat offenbar die Chemie gestimmt.

Wir wissen zwar noch nicht genau, was im nichtöffentlichen Part geschehen ist. Aber in Zukunft wird entscheidend sein, ob die USA und die wichtigsten europäischen Akteure gemeinsam handeln können. Wenn sich das Washingtoner Format später fortsetzt, würde mich das hoffnungsvoll machen.

"Direkte Verhandlungen dürften derzeit nicht erfolgreich sein"

tagesschau.de: Nach einer solchen Entwicklung sah es zuletzt nicht mehr aus. Das Treffen von Trump und Putin in Alaska erweckte eher den Eindruck, als würden nun zwei Großmächte allein über das Schicksal der Ukraine entscheiden.

Umland: Wenn man den öffentlichen Bildern des vergangenen Abends glaubt, dann scheint es eine Abwendung Trumps von den Ansprüchen Russlands zu geben. Im öffentlichen Teil tauchten solche Themen wie Übereignung der Krim an Russland, Abtretung von nicht-besetzten ukrainischen Gebieten an Moskau oder Verankerung des Russischen als zweite Amtssprache in der Ukraine nicht auf. Das war schon mal gut.

Und wenn solche Themen auch im nichtöffentlichen Teil nicht im Vordergrund standen, dann ist das ein Format, mit dem man weiterarbeiten kann. Denn selbst direkte Verhandlungen von Wladimir Putin und Selenskyj, wenn es wirklich zu ihnen kommt, dürften derzeit nicht erfolgreich sein. Demnächst wird es daher wieder zur Frage kommen, was der Westen in puncto Ukraine sowie Russland macht und ob er in der Lage sein wird, entschieden und geeint zu handeln.

Ein paar Worte zum Weißen Haus gab es auch: Die Chemie zwischen Trump und seinen Gäste schien beim Treffen in Washington zu stimmen - die Frage ist, wie lange das so bleibt.

"Jede Frage markiert eine rote Linie"

tagesschau.de: Was wird Ihrer Einschätzung nach das entscheidende Hindernis bei Gesprächen zwischen Putin und Selenskyj sein?

Umland: Russland verfolgt zum Beispiel die Idee, dass sich die Ukraine freiwillig aus eigenen Gebieten, die sie jetzt kontrolliert, zurückziehen und deren Kontrolle an Russland übergeben soll. Da geht es vor allen Dingen um den nördlichen Donbass, der von der Ukraine trotz wiederholter russischer Attacken seit elf Jahren gehalten wird und der für Kiew militärisch sowie strategisch wichtig ist.

Es gibt andere Punkte, die für die Ukraine nicht diskutabel sind - die Krimfrage, das Ziel eines NATO-Beitritts der Ukraine, die Position der Russisch-Orthodoxen Kirche in der Ukraine, die russische Sprache in der Ukraine und so fort. Jede einzelne dieser Fragen markiert eine rote Linie für sich.

Die Akkumulation nicht verhandelbarer Themen lässt mich daran zweifeln, dass bei einem Treffen Selenskyjs mit Putin etwas Nennenswertes herauskommt - wenn es denn überhaupt zu einer persönlichen Begegnung kommt.

Mit der Diplomatie erreichen, was militärisch nicht gelang

tagesschau.de: Warum ist denn der nördliche Donbass strategisch so wichtig für die Ukraine?

Umland: Dieser Teil der Front ist, so lese ich bei Militärexperten, sehr gut befestigt - so gut, dass ihn Russland bislang nicht erobert hat. Russland erhebt schon seit 2014 Anspruch auf das gesamte Donezbecken. Es ist der russischen Armee aber in elf Jahren nicht gelungen, die vollständige Kontrolle über den Donbass zu erringen. Deshalb versucht Putin es jetzt auf dem nichtmilitärischen Weg einer diplomatisch erzwungenen Abtretung der verbliebenen Gebiete durch Kiew.

tagesschau.de: Die Ukraine verweist stets darauf, dass die Gebietszugehörigkeit des ganzen Donbass, also der Oblaste Luhansk und Donezk, auch in der Verfassung festgeschrieben ist, genauso wie die der Krim. Aber Verfassungen lassen sich ändern - warum sollte das in diesem Fall nicht gehen?

Umland: Es wird dafür keine Mehrheit geben; das ist für die meisten Ukrainer nach 35 Jahren ukrainischer Souveränität ein absurder Vorschlag. Russland hat zudem das ukrainische Staatsterritorium nach der Auflösung der UdSSR in mehreren Verträgen anerkannt, auch Putin selbst hat im Jahr 2003 einen bilateralen und 2004 ratifizierten Grenzvertrag unterschrieben, der nochmals und ausdrücklich die russisch-ukrainische Grenze festschrieb. Deshalb wird die Ukraine nie Staatsterritorium de jure an Russland abtreten.

Russland versucht mit dem Aufbringen solcher heiklen Fragen unter anderem, nationale Uneinigkeit in der Ukraine zu erzeugen, letztlich also einen Bürgerkrieg zu entfachen. So hat Moskau es schon 2014-2021 versucht, den damaligen, vom Kreml inszenierten Pseudo-Bürgerkrieg im Donbass in einen wirklichen Bürgerkrieg umzuwandeln.

Grundfragen der nationalen Souveränität oder Kulturpolitik der Ukraine werden immer wieder von Putin bei den Bedingungen für eine Waffenruhe ins Spiel gebracht, um die Ukraine zu spalten. Das durchschauen die Ukrainer natürlich, und deswegen wird es weder von Selenskyj noch einer/m anderen Präsidenten/in Zugeständnisse geben.

"Es wird keinen stabilen Waffenstillstand geben"

tagesschau.de: Ein anderer fundamentaler Widerspruch der vergangenen Monate ist die Frage nach den Sicherheitsgarantien. Sehen Sie die Interessengegensätze beider Seiten hier überhaupt als auflösbar an?

Umland: In dieser Frage gibt es einen strategischen, ja sogar logischen Widerspruch. Wenn man vollumfängliche Sicherheitsgarantien implementieren will, muss man westliche Truppen in größerem Ausmaß auf ukrainischem Territorium stationieren. Dazu müsste es aber zunächst einen vollumfänglichen, stabilen und dauerhaften Waffenstillstand oder Frieden geben. Da Putin aber keine westlichen Soldaten in der Ukraine sehen will, wird es keinen längeren stabilen Waffenstillstand geben.

Man kann seitens des Westens daher derzeit sinnvoll nur über Waffenlieferungen und andere Unterstützung Kiews zur Erhöhung ukrainischer Sicherheit sprechen. Letztlich ist die ukrainische Armee der wichtigste Sicherheitsgarant der Ukraine. Seitens des Westens könnte man zudem über Flugverbotszonen über der Ukraine sprechen, die etwa von europäischen Jagdflugzeugen mit durchgesetzt werden. Und das könnte man sogar schon heute, vor Erreichung eines Waffenstillstands machen. 

tagesschau.de: Ginge das auch ohne die USA, oder müssten die Vereinigten Staaten dabei sein?

Umland: Die USA müssten nicht direkt mit eigenen Piloten und Flugzeugen bei der Implementierung von Flugverbotszonen über der Ukraine dabei sein. Aber Länder wie Polen, von denen aus etwa europäische Jagdflugzeuge operieren könnten, würden eine Art extra Sicherheitsgarantie von Washington verlangen für den Fall, dass Russland polnische Flughäfen angreift, von denen Jagdflugzeuge zum Einsatz in der Ukraine aufsteigen.

In dem Fall würde Polen auf der Zusage bestehen, dass die USA dann auch tatsächlich an der Seite Polens stehen und im Rahmen der NATO-Beistandspflicht aktiv werden. Wenn Polen oder Rumänien derartige zusätzliche Garantien und eventuell auch US-Stützpunkte bekommen, schiene die Einrichtung von Flugverbotszonen durch die europäischen Staaten etwa über west- und zentralukrainischen Städten, Atomkraftwerken, Eisenbahnlinien, Flughäfen und so weiter denkbar.

tagesschau.de: US-Präsident Trump wollte das Engagement der USA in diesem Krieg zurückfahren, wenn nicht gar beenden, hat sich zuletzt aber auch dazu ambivalent geäußert. Weit würde er in Sachen Sicherheitsgarantien gehen?

Umland: Trumps Haltung bleibt ein Problem. Aber bei einem russischen Angriff auf Polen ginge es ja um ein NATO-Land. Da sind die USA und alle anderen Mitgliedstaaten laut NATO-Vertrag ohnehin zum Beistand verpflichtet.

Natürlich wären die Mittelosteuropäer verunsichert und bräuchten wahrscheinlich eine ausdrückliche Versicherung seitens Trump, dass für ihn der berühmte Artikel 5 des Washingtoner Vertrags von 1949 voll verpflichtend ist und dass polnische oder rumänische Flughäfen sowie andere Stützpunkte auch tatsächlich von den USA geschützt werden.

"Die Haltung der amerikanischen Öffentlichkeit hat sich geändert"

tagesschau.de: Trump hat sich in den vergangenen Monaten sehr schwankend in seiner Haltung gegenüber der Ukraine und Russland gezeigt und seinen Ultimaten und Drohungen an Russland keine Taten folgen lassen. Wie verlässlich ist insofern die Gemeinsamkeit, die in Washington demonstriert wurde?

Umland: Die Person Trump ist wenig verlässlich. Es haben sich aber ein paar strukturelle Dinge in den vergangenen Monaten geändert. Da ist zum Beispiel die Stimmung in Europa - die Europäer sind untereinander zusammengerückt und begreifen ukrainische Sicherheit als Teil der gesamteuropäischen Sicherheit.

Auch die Haltung in der amerikanischen Öffentlichkeit hat sich zu Kiews Gunsten geändert, trotz einer intensiven prorussischen Kampagne der letzten Monate in den ultrakonservativen US-Medien. Einfache Amerikaner und selbst republikanische Wähler unterstützen laut Umfragen wieder stärker die Ukraine.

Beide Faktoren kann Trump nicht ignorieren. Er wird auch vor den nächsten Kongresswahlen mehr Druck aus seiner eigenen Partei bekommen, nicht als Verräter der Ukraine dazustehen.

Zur Person Dr. Andreas Umland ist Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Angelegenheiten (UI) und lehrt Politikwissenschaft an der Kyiv-Mohyla Academy.

"In der Ukraine entscheidet sich, ob das Weltsicherheitssystem bestehen bleibt"

tagesschau.de: Unter dem Strich - blicken Sie heute optimistischer oder pessimistischer auf die weiteren Verhandlungen mit Russland?

Umland: Ich würde mich freuen, wenn es tatsächlich zu einem Treffen zwischen Selenskyj und Putin käme, ob mit oder ohne Trump, und noch mehr, wenn es zu einem Waffenstillstand oder gar Frieden kommt. Das würde mich hier in Kiew direkt betreffen.

Aber ich glaube, dass bei den jetzigen Gesprächen nichts Stabiles und Substantielles herauskommt. Die Verhandlungen werden, befürchte ich, letztlich scheitern. Umso wichtiger wird sein, ob Europa und die USA im Weiteren zusammenstehen und das gestrige Washingtoner Format gemeinsamer Entscheidungsfindung fortführen, vielleicht ergänzt durch einen Repräsentanten Polens. Die euro-atlantische Koalition müsste dann gemeinsam überlegen, welche neuen Sanktionen gegen Russland eingeführt und welche zusätzliche Waffen an die Ukraine geliefert werden.

Genug Motivation müsste es geben: In der Ukraine entscheidet sich, ob das heutige Weltsicherheitssystem bestehen bleibt oder nicht. Die Ukraine ist ein reguläres UN-Mitglied und offizieller Nicht-Kernwaffenstaat. Wenn Teile der Ukraine dauerhaft von Russland, einem offiziellen Kernwaffenstaat im Atomwaffensperrvertrag und ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, annektiert bleiben, hätte das gravierende Folgen.

Es könnte bedeuten, dass viele Länder, die sich bisher an die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen gehalten haben, ihre Position ändern. Sie würden versuchen, dem Schicksal der Ukraine zu entgehen und sich mit nuklearen, chemischen und/oder biologischen Waffen ausrüsten, da sie kein Vertrauen mehr in Völkerrecht, internationale Organisationen und weltweite Solidarität haben. Damit würde weltweit das Risiko von Kriegen und terroristischen Anschlägen mit katastrophalen Folgen zunehmen. 

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de

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