Von Peking reist Kremlchef Putin weiter zum Wirtschaftsforum in Wladiwostok. Doch Russlands wirtschaftliche Probleme dürften dort nicht angesprochen werden. Der Experte Andrey Gurkov sagt: Krieg und Sanktionen werden für Russland immer teurer.

tagesschau.de: Der russische Wirtschaftsminister spricht von einer drohenden Rezession, der Finanzminister von geringen Wachstumszahlen. Machen sich Kriegswirtschaft und Sanktionen nun doch bemerkbar?

Andrey Gurkov: Definitiv. Und die Zahlen, die die Minister nennen, beinhalten ja noch nicht die Zahlen vom August. Der August aber war ein Horrormonat für die wichtigste russische Branche, die Ölindustrie. Denn die Ukraine hat, und das ist eine neue Strategie, ganz methodisch russische Raffinerien überall im europäischen Teil der Russischen Föderation mit Drohnen angegriffen. Mindestens zehn Raffinerien sind in Brand gegangen, einige sind zweimal unter Beschuss geraten, mehrere sogar dreimal.

Außerdem wurden Exportrouten angegriffen: Der Hafen Ust-Luga an der Ostsee oder die Ölpumpstation an der Druschba-Pipeline, über die das Öl nach wie vor nach Ungarn und in die Slowakei gepumpt wird, womit diese Länder die russische Kriegskasse füllen. Mit einem Wort: Wir haben Faktoren, die die makroökonomischen Zahlen in den vergangenen Wochen anscheinend enorm verschlechtert haben.

Zur Person Andrey Gurkov ist Autor und Publizist und arbeitete viele Jahre für russische und deutsche Medien, zuletzt für die Deutsche Welle. Im Frühjahr erschien sein Buch "Für Russland ist Europa der Feind".

Was die Zahlen des ersten Halbjahres angeht, so hat sich die Dynamik in der russischen Wirtschaft ausgesprochen verlangsamt. Mehr noch: Kremlnahe Experten aus staatlichen Banken sprechen davon, dass anscheinend die russische Wirtschaft bereits in einer Rezession ist, also zwei Quartale hintereinander ein Minus hervorgebracht hat. Wir sprechen hier von offiziellen Zahlen, und die zeigen, dass die Kriegswirtschaft nach wie vor wächst oder zumindest nicht ins Minus geraten ist, während die zivilen Branchen eindeutig ins Minus gegangen sind.

Das verschlechtert die finanzielle Situation des Staates, der viel mehr Geld braucht, um den Krieg weiterzuführen. Wir haben eine rapide Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation, was aber nicht heißt, dass der Kreml jetzt schon daran denkt, den Krieg aufgrund der wirtschaftlichen Probleme zu beenden. Aber der Krieg, und das ist ja das Ziel der Wirtschaftssanktionen des Westens, wird für den Kreml immer teurer.

"Russlands Plage ist die hohe Inflation"

tagesschau.de: Zeigt sich hier, dass die Umstellung auf die Kriegswirtschaft zulasten des privaten Sektors geht?

Gurkov: Ja. Der Staat hat in den vergangenen Jahren massiv Geld in die Kriegsproduktion gepumpt. Das hat dazu geführt, dass viele Arbeitskräfte in die Kriegsproduktion gewechselt sind, um mehr Geld zu verdienen. Dadurch sind die Lohnkosten und vor allem die Kreditkosten für den privaten Sektor höher geworden. Denn Russlands große wirtschaftliche Plage ist die durch den Krieg bedingte außerordentlich hohe Inflation. Die hohen Staatsausgaben haben dazu geführt, dass der Leitzins in Russland bis vor kurzem noch bei sage und schreibe 21 Prozent lag. Mittlerweile liegt er bei 18 Prozent. Solche Zinsen kann sich kein mittlerer, schon gar kein Kleinunternehmer leisten.

Aber nicht nur die private Wirtschaft schrumpft. Auch die Kriegswirtschaft arbeitet an den Kapazitätsgrenzen. Die Abnutzung des Materials ist sehr groß, aber die westlichen Sanktionen verhindern, dass diese Maschinen schnell ersetzt werden. Man hat praktisch nur den einen Lieferanten China, und der nutzt die Lage Russlands natürlich aus, um russischen Käufern nicht die preisgünstigsten Varianten anzubieten.

"Treibstoffprobleme könnten ein Reizfaktor werden"

tagesschau.de: Spüren die russischen Bürger auch durch die Angriffe auf die Ölraffinerien die Folgen des Krieges inzwischen deutlicher?

Gurkov: Ja, denn das führt dazu, dass es zwar nicht flächendeckend, aber doch in einigen Regionen zu Treibstoffknappheit gekommen ist und sich an den Tankstellen lange Schlangen bildeten. Wenn das so weitergeht, wenn also die ukrainischen Angriffe fortgesetzt werden und die Probleme bei der Produktion von Treibstoff zunehmen, wird das in der Bevölkerung zweifelsohne ein Reizfaktor sein.

Treibstoffprobleme könnten auch dazu führen, dass von einer ohnehin anscheinend nicht sehr guten Ernte noch weniger eingefahren wird. Das könnte in Verbindung mit den Haushaltsproblemen dazu führen, dass die Unzufriedenheit mit den Machthabern zunimmt. Ich würde diese Unzufriedenheit aber nicht überschätzen. Es wird keinen Aufstand gegen den Krieg geben.

"Putin muss einen Sieg präsentieren"

tagesschau.de: Es hieß in der Vergangenheit immer, es gebe eine Art stillen Pakt zwischen Putin und seiner Bevölkerung. Putin steht für Stabilität, und dafür lässt man ihn machen. Bekommt das nun Risse? Oder schiebt man die Probleme des Landes doch dem Westen zu?

Gurkov: In den ersten eineinhalb Jahrzehnten von Putins Macht, also etwa bis 2014, war der ungeschriebene Vertrag: Wir genießen den Konsum, bekommen immer mehr Wohlstand, mischen uns dafür aber nicht in die Politik ein. Dann änderte sich die Stimmung und auch das Narrativ. Die Eroberung der Krim hat eine massive Euphorie im Land hervorgerufen und Putin das Signal gegeben, dass er seine Popularität noch mehr steigern kann, wenn er dem Land Siege präsentiert, zusätzlich zu dem teilweise bescheidenen Wohlstand, der in seinen Amtsjahren gewachsen ist.

Jetzt kann von Stabilität keine Rede mehr sein, wenn die Menschen in verschiedenen russischen Städten, auch weit entfernt von der Ukraine, frühmorgens aufwachen, weil die Flugabwehr versucht, ukrainische Drohnen abzuschießen. Stabilität wird aber auch nicht mehr in dem Maße erwartet - es wird ein erfolgreicher Feldzug erwartet, ein Sieg.

Das ist das große Problem für Putin. Er muss der Nation einen Sieg präsentieren. Die Menschen müssen zwar vor der Tankstelle Schlange stehen, aber wenn Russland diesen Krieg gewinnt, würde man ihm das verzeihen. Das ist eine Erklärung, warum Putin so hartnäckig jegliche Versuche torpediert, einen Waffenstillstand herbeizuführen oder den Krieg zu beenden.

"Der kommende Winter wird für den Kreml sehr schwierig"

tagesschau.de: Wenn sich die wirtschaftlichen Daten nach und nach verschlechtern, können Sie einen Punkt abschätzen, an dem es für Putin schwierig wird, diesen Krieg weiterzuführen?

Gurkov: Es wird jetzt schon für ihn schwieriger. Der Zermürbungskrieg gegen die Ukraine ist auch zu einem Zermürbungskrieg für Russland und für die russische Wirtschaft geworden. Er kann nicht mehr das Geld in vollen Zügen ausgeben, beispielsweise für die wahnsinnig hohen Prämien, die den Freiwilligen gezahlt werden, die dafür in den Krieg ziehen und die dann die Familie bekommt, weil die Freiwilligen meistens nicht aus diesem Krieg zurückkehren. Putin hat weniger Geld, um staatliche Unternehmen oder ganze Branchen, wie etwa die schwer kriselnde Kohleindustrie zu subventionieren. Und wenn er einfach Geld drucken sollte, würde das die Inflation weiter anheizen - was dann auf die ganze Bevölkerung durchschlagen würde. Hinzu kommen die generellen Infrastrukturprobleme, die Russland wie viele andere Staaten auch hat, sowie Sozialsysteme, die umgebaut werden müssten.

Ich glaube, dass der kommende Winter für den Kreml sehr schwierig sein wird und Einfluss nehmen könnte auf seine Verhandlungsbereitschaft im Frühjahr. Je schmerzhafter die Angriffe der ukrainischen Seite nicht nur auf die Ölraffinerien, sondern generell auf die russische Wirtschaft, auf russische Militärbetriebe sein werden, desto schneller wird dieser Zustand erreicht werden. Aber noch ist man nicht so weit.

Putins Hoffnung ruht auf Trump, dass er ihm irgendwie behilflich ist und Druck auf die Ukraine ausübt. Und Putin hofft, dass die Europäer schwach werden und ihre Bemühungen aufgeben. Genau das sollten sie deshalb in der jetzigen Situation nicht tun. Die Erhöhung des Sanktionsdruckes ist jetzt ein Mittel, um ein gerechtes Kriegsende herbeizuführen. Nicht in den nächsten Wochen, nicht in den nächsten Monaten, aber in der Perspektive wohl eines Jahres.

"China flutet Russland mit Exportprodukten"

tagesschau.de: Putin nimmt ab Mittwoch am Wirtschaftsforum in Wladiwostok teil. Ist von ihm irgendein Signal zu erwarten?

Gurkov: Nein. Putin braucht dieses Treffen in Wladiwostok, um zu zeigen, dass Russland international nicht isoliert ist. Die Botschaft wird sein: Russland ist wirtschaftlich fit und wird einen massiven Aufschwung erleben. Darüber spricht Putin ständig.

Große Investitionsvorhaben aus dem asiatischen Raum, etwa in der Automobilindustrie, sind aber kaum zu erwarten, schon gar nicht aus China. Es gibt in Russland eine massive Enttäuschung darüber, dass China nicht in Russland investiert, sondern eher den russischen Markt mit seinen Exportprodukten flutet.

Das Forum ist eine politische Propagandaveranstaltung, die 2015, ein Jahr nach der Krim-Annexion, gegründet wurde, um zu zeigen: Russland wendet sich vom Westen ab und dem Osten, Asien, dem pazifischen Raum zu. Aber wirtschaftlich kommt von dort unvergleichbar weniger, als früher aus Westeuropa oder den USA kam.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de.

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