Fast überall in Israel findet man sie: Aufkleber, die an die
israelischen Opfer des Krieges erinnern. Für einen Forscher stehen sie für den Beginn einer neuen Erinnerungskultur.

"Sie entkommen dem Blick von Libby hier nicht. Wenn ich Geschirr einräume in der Küche oder am Tisch, schaut sie mich an. Ich möchte sie überall sehen."

Shelley Mashal Yogev ist die Mutter von Libby Cohen, deren Fotos sie überall hier in ihrem Haus in Tel Aviv verteilt hat. Nicht nur hier: Auf fast jedem Bahnhof, an Bushaltestellen, Laternen oder Einkaufsmalls in Israel kann man Aufkleber der jungen Frau sehen.

Libby lachend auf Rollerskates, mit langen schwarzen Haaren in Uniform, lächelnd. "Die Sonne wird in meinem Herzen nie aufgehen", steht auf den Stickern. Libby war 22 Jahre alt, als Hamas-Terroristen sie am 7. Oktober vor zwei Jahren auf dem Nova-Musikfestival erschossen.

"Wir haben bis zum letzten Atemzug gesprochen"

Ihre Mutter erzählt vom letzten Telefonanruf ihrer Tochter, nachdem sie angeschossen wurde. "Ich habe geschrien, wer hat auf Dich geschossen? Sie sagte: 'Mami, ich weiß nicht. Um mich herum ist niemand am Leben. Ich werde sterben. Ich liebe Dich. Bitte Mami hör auf zu schreien, ich liebe Dich. Du bist die beste Mami, die wir haben können.'"

Dann sei sie ruhig gewesen, sagt Shelley. Die Terroristen hätten aus einem Meter Entfernung geschossen, damit sie wirklich tot sei. "Wir haben die Schüsse gehört. Wir haben mit ihr bis zum letzten Atemzug gesprochen."

Mehr als ein Name an einer Wand

Vier Tage dauerte es, bis die Leiche von Libby Cohen gefunden wurde. Nur langsam habe sie das Ausmaß des Hamas-Angriffs am 7. Oktober begriffen, sagt Libbys Mutter. Sie habe realisiert, dass der Name ihres Kindes auf einem Denkmal mit mehr als 1.000 Namen stehen könnte.

"Roi, Liri, Lihi, Jonathan, Libi … mein wunderbares Kind wird am Ende nur eine Zeile auf einer Wand sein. Also habe ich entschieden, dass man sie nie mehr vergessen wird. "

Shelley Mashal Yogev will die Erinnerung an ihre Tochter am Leben erhalten.

Seitdem lässt Libbys Mutter jeden Monat tausende Aufkleber ihrer Tochter drucken. Einer fröhlichen jungen Frau, 1,50 Meter groß mit riesigem Selbstvertrauen, eines ihrer drei Kinder, ein Zwillingskind, sagt Shelley Mashal Yogev.

Sie sei Chefin einer Gedenkfabrik, die Sticker an Menschen in Israel verteilt, die sie auf Reisen im In- und Ausland aufkleben. Ganze Aufkleber-Teppiche zieren Bahnhöfe, Haltestellen und Gebäude in Israel. Zu den Stickern von Opfern des 7. Oktober sind gefallene Soldaten im Krieg hinzugekommen.

Entstehung einer neuen Erinnerungskultur

"Eine neue Erinnerungskultur im Land entsteht", sagt Noam Tirosh. Er leitet die Abteilung Kommunikationswissenschaften an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva.

"Die inneren Konflikte, Spaltungen und politischen Debatten haben ihren Weg auf die Aufkleber und auf die Straße gefunden." Manche Aufkleber hätten die Botschaft: Für den totalen Sieg der israelischen Armee in Gaza. Manche sagten: Ich will kein Sticker werden.

Es gebe einen richtigen Sticker-Krieg, sagt Tirosh. "Jemand klebt einen Aufkleber über einen anderen, der sagt, man lebt verdammt nochmal nur einmal. Die Gesellschaft ist gespalten und die Menschen argumentieren miteinander."

Auch Angestellte der Universität betroffen

Noam Tirosh forscht zu dem Sticker-Phänomen. Er ist an der Universität aber auch selbst betroffen. 80 Angestellte und Studenten der Ben-Gurion-Universität starben am 7. Oktober. Hier auf dem Campus finden sich Erinnerungssticker neben Kerzenlichtern und an Türen zu Vorlesungszimmern.

Noam Tirosh steht neben einer Stellwand mit Stickern an der Ben Gurion Universität.

"Dina Kapshitter aus unserer Verwaltung. Terroristen töteten sie, ihren Partner, ihre neunjährige Tochter Aline und ihren fünfjährigen Sohn Eitan", sagt er und deutet auf einen Sticker. "Das ist Sgt. Roi Biber, er war Student. Auf dem Sticker steht, wir gewinnen für Biber. Es gibt einen QR-Code und Hashtag. Und hier steht Fuck Hamas."

Mit QR-Codes zum hybriden Medium

Obwohl es als Straßenphänomen begann, interessiert Tirosh, dass viele Aufkleber Links und QR-Codes zu Instagram- oder Facebook-Seiten enthalten, auf denen Angehörige posten.

Viele Sticker enthalten QR-Codes mit Links zu sozialen Medien.

"Deshalb nenne ich es hybrides Erinnerungsmedium. Wenn Sie am Bahnhof stehen, können Sie den QR-Code scannen und sind in dieser Online-Sphäre." Das Sticker-Phänomen wachse, sei aber vergänglich. Ein Sommer in Israel könne Aufkleber zerstören. "Erinnerung hat im Hebräischen etwas mit Unsterblichkeit zu tun. Deshalb will unsere Gesellschaft etwas schaffen, dass bleibt."

Gemeinsames Erinnern auf Social Media

Genau das will auch Libbys Cohens Mutter Shelley Mashal Yogev. Sie hält ihr Handy in der Hand. "Ich schreibe Libby WhatsApps: Libby komm nach Hause. Ich warte auf Dich. Ihr Telefon ist hier. Ich schreibe und höre Kling."

Sie kenne niemanden, der tot sei und WhatsApp-Nachrichten bekomme. Aber Libby bekäme weiter Nachrichten. "Sie ist noch da. Dann kopiere ich die Nachrichten auf Instagram und die Menschen öffnen ihre Herzen für Libby."

117-tausend Follower habe ihre Tochter. Wenn sie einmal vergesse: "Guten Morgen von Libby" zu wünschen, sagt Shelley, kommen tausende Nachfragen. Ihr helfe das mit ihrem Schmerz umzugehen und auch ihre Meinung zu sagen, sagt Shelley zum Schluss.

"Ich poste den Namen von jedem Soldaten, der stirbt, auf Libbys Instagram und schreibe: 'Genug!'. Wir haben in diesem Land genug Schmerz. Wir müssen damit aufhören."

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