«Mich ärgert dieses Image von Chemnitz», sagt Oberbürgermeister Sven Schulze und meint das Image einer Hochburg von Rechtsextremisten. Es ist neben dem Wahrzeichen von Chemnitz – der riesigen Karl-Marx-Büste – ziemlich das Einzige, was viele mit der sächsischen Stadt im Schatten von Leipzig und Dresden verbinden.

Legende: Ein Wahrzeichen von Chemnitz: Die grosse Büste von Karl Marx. srf

Viel lieber spricht Schulze über Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas. Bei der Bewerbung spielten die rechtsextremistischen Strukturen der Stadt aber eine zentrale Rolle. «Wir haben in der Bewerbung keine Hochglanzbroschüre abgegeben, wir haben die Stadt so gezeigt, wie sie ist.» Und da gehört dieses Image dazu. Spätestens seit 2018 hat Chemnitz diesen Stempel.

Rechtsextreme Hetzjagden in Chemnitz 2018

Damals gab es einen Aufmarsch von rund 6000 gewaltbereiten Rechtsextremisten – laut Experten war das die grösste rechtsextreme Präsenz im öffentlichen Raum der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Neonazis veranstalteten rassistische Hetzjagden – die Polizei stand dem Treiben zeitweise machtlos gegenüber.

Legende: 2018 kam es in Chemnitz zu einem Aufmarsch von 6000 gewaltbereiten Rechtsextremisten – laut Experten war das die grösste Rechtsextreme Präsenz im öffentlichen Raum der deutschen Nachkriegsgeschichte. KEYSTONE/DPA/Ralf Hirschberger

Schockierend war auch, wie rasch diese massive Mobilisierung zu erreichen war. «Rechtsextreme Organisationsstrukturen haben Tradition in Chemnitz», weiss Soziologe Ulf Bohmann.

Die stille Mitte

Bohmann hat die Stadtgesellschaft wissenschaftlich untersucht und festgestellt: Die Menschen in Chemnitz geben sich auffällig apolitisch, wollen mit den politischen Rändern nichts zu tun haben, und ziehen sich ins Private zurück; die Rede ist von der «stillen Mitte». «Wenn Leute sich zurückziehen, entsteht ein Vakuum. Und dieses Vakuum ist ein Geschenk für die rechte Szene», sagt Bohmann. Rechtsextremistische Strategen hätten die Stadt offensichtlich als Ort erkannt, wo man es probieren kann, wo man ein bisschen Erfolg haben kann. «Dieses ‹bisschen Erfolg haben› entwickelt eine Eigendynamik», so Bohmann.

Wenn Leute sich zurückziehen, entsteht ein Vakuum. Und dieses Vakuum ist ein Geschenk für die rechte Szene.
Autor: Ulf Bohmann Soziologe

Die Stadtgesellschaft leistet kaum Widerstand, es gibt eine gewisse Normalisierung von rechtsextremer Symbolik und eine hohe Anschlussfähigkeit. Nur dank dieser rechtsextremen Strukturen konnte auch das mörderische Terrornetzwerk des NSU-Komplexes in Chemnitz unerkannt leben und seine rassistischen Morde organisieren.

Pilotprojekt NSU-Dokumentationszentrum

Nun will Chemnitz das Jahr als Kulturhauptstadt nutzen: gegen das Image als Neonazi-Stadt und für mehr Selbstvertrauen der Bevölkerung. Ein NSU-Dokumentations- und Informationszentrum mitten im Zentrum ist wesentlicher Bestandteil davon. Es gilt als Pilotprojekt, als Modell für andere deutsche Städte. «Es ist ein grosser Meilenstein und ein deutliches Signal, dass wir als Gesellschaft keinen Schlussstrich unter den NSU-Komplex ziehen wollen», sagt Jörg Buschmann. Sein Projektteam «Offener Prozess» hat das Zentrum in Chemnitz mitorganisiert und damit ein heisses Eisen angefasst: Es habe einen Unwillen gegeben, beim NSU und seinem Treiben in Sachsen genauer hinzuschauen.

Soziologe Ulf Bohmann hält das Zentrum für eine grosse Chance für die sächsische Stadt, «weil man es schaffen kann, eine gewisse Schuldfrage umzudeuten, man kann es souverän und beherzt aufarbeiten. Darin liegt viel Stärke und die Möglichkeit, das Bild einer Stadt zu korrigieren». Und das könnte am Ende die Chemnitzer selbstbewusster machen – und resilienter gegen den Rechtsextremismus.

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