«Gaza ist das Schlimmste, was ich je gesehen habe»
Die Kanadierin Amy Kit-Mei Low leitet ein medizinisches Team von «Ärzte ohne Grenzen» (MSF) im Nasser-Spital im Süden des Gazastreifens. Im Interview mit SRF News gibt sie Auskunft zur aktuellen Lage.
SRF News: Das Nasser-Spital liegt nach den neusten Evakuierungsaufforderungen der israelischen Armee nun direkt an der Grenze zur roten Evakuierungszone. Was würde das für Sie bedeuten, wenn das Spital schliessen müsste?
Amy Kit-Mei Low: Das wäre nicht auszudenken. Das Nasser-Spital ist das grösste Spital im Süden und das einzige, das noch funktioniert. Sämtliche Feldspitäler sind aufs Nasser-Spital angewiesen: etwa wegen der Blutbank, für die Sauerstoffversorgung oder für die Sterilisierung.

Das Nasser-Spital ist quasi das Mutterschiff. Wenn es schliessen müsste, könnten auch die Feldspitäler nicht mehr richtig arbeiten.
Seit gut einer Woche läuft in Gaza der neue Verteilmodus der umstrittenen «Gaza Humanitarian Foundation» (GHF). Menschen müssen weite Strecken gehen, um in einem der wenigen Verteilzentren Essen zu bekommen. In den vergangenen Tagen kam es in diesem Zusammenhang zu mehreren Vorfällen mit Toten und Verletzten. Was sagen Sie dazu?
Für mich zeigt das, dass die GHF nicht für solche Verteilaktionen gewappnet ist und sich nicht an humanitäre Grundsätze hält. Meiner Meinung nach sieht das nach einer Militarisierung von Hilfe aus. Die UNO, das Welternährungsprogramm oder wir bei «Ärzte ohne Grenzen»: Wir alle haben Erfahrung, wie man solche Verteilaktionen organisieren muss.

Bei einer normalen Essensverteilung muss man nicht mit hohen Todeszahlen rechnen. Wenn man die Arbeit den Profis überlassen würde, käme es auch nicht zu solchen Vorfällen.
Israel lässt inzwischen aber auch wieder Hilfsgüter über die etablierten Organisationen nach Gaza rein – wenn auch nur in kleiner Zahl. Macht sich das Ende der Blockade bei Ihrer Arbeit bemerkbar?
Israel hat bisher nur wenige Lastwagen mit humanitärer Hilfe reingelassen.
Mangelernährung betrifft zunehmend die ganze Bevölkerung.
Unser Team wartet auf etwa 100 Lastwagen – bisher haben wir aber nur vier Paletten erhalten. Das ist viel zu wenig.
Wie gross ist das Thema Mangelernährung bei Ihnen im Spital?
Kinder sind am verletzlichsten. Im Spital haben wir zehn Betten für Kinder mit Mangelernährung. Bereits letztes Jahr waren diese Betten immer voll besetzt, genauso wie dieses Jahr. Was mich mehr schockiert, ist, was wir in unserer ambulanten Klinik sehen: In letzter Zeit haben wir dort immer mehr schwangere oder stillende Frauen, die deutliche Anzeichen von Mangelernährung aufweisen.

Nach meiner Erfahrung wird diese Gruppe eigentlich gut geschützt. Wir sehen hier also, dass Mangelernährung zunehmend die ganze Bevölkerung betrifft.
Sie sehen bei Ihrer Arbeit viel Schlimmes. Wie gehen Sie persönlich damit um?
Ich mache diese Arbeit nun schon seit rund zehn Jahren. Gaza ist das Schlimmste, was ich je gesehen habe. Schwierig ist es immer bei Vorfällen mit vielen Toten und Verletzten.
Meine Familie weiss, dass dies die Arbeit ist, die ich gerne mache: Dort zu helfen, wo die Not am grössten ist.
Während des Ereignisses funktioniert man einfach und hat keine Zeit nachzudenken. Aber anschliessend ist man schockiert, was man da gerade erlebt hat.
Was sagen Ihre Familie und Freunde zum Einsatz in Gaza?
Sie haben Angst um mich und haben keine Freude, dass ich mich entschieden habe, hierher zu gehen. Aber der Einsatz dauert nur zwei Monate. Sie wissen, dass dies die Arbeit ist, die ich gerne mache: Dort zu helfen, wo die Not am grössten ist und für die verletzlichsten Menschen der Welt da zu sein.
Das Gespräch führten Jonas Bischoff und Anita Bünter.
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