Neben dem Krieg muss sich die Ukraine auch mit Reformen beschäftigen - zum Beispiel im Kampf gegen Korruption. Nun gerät das Selenskyj-Umfeld in die Kritik. Grund ist der Umgang mit einem Aktivisten.

Vitalij Schabunin kämpft seit vielen Jahren gegen die Korruption in der Ukraine. Er kritisiert die Mächtigen, stößt Reformen an, leitet das Zentrum für Korruptionsbekämpfung. 

Ausgerechnet gegen ihn geht das Staatliche Büro für Ermittlungen (DBR) jetzt offen vor. Der Vorwurf: Schabunin, der sich 2022 der Armee angeschlossen hat, soll unerlaubt seinen Posten verlassen und über Monate widerrechtlich seinen Sold kassiert haben. Außerdem soll er einen 20 Jahre alten Geländewagen zweckentfremdet haben.

Schabunin und sein Team weisen diese Vorwürfe zurück und fordern das DBR auf, "sich für die Lügen zu entschuldigen".

Kritik an brachialem Vorgehen der Ermittler

"Diese Durchsuchungen ohne vorherige Gerichtsbeschlüsse und Verdächtigungen sind absurd", sagt Darija Kalenjuk. Gemeinsam mit Schabunin hat sie das Zentrum für Korruptionsbekämpfung gegründet. Sie ist die Geschäftsführerin. "Das ist Willkür und politische Verfolgung wegen der klaren Position von Vitalij Schabunin und des Zentrums für Korruptionsbekämpfung", sagt sie.

Kalenjuk ist vor Ort, als maskierte Männer das Haus ihres Kollegen durchsuchen. Sie dokumentiert den Vorgang mit dem Handy, berichtet, dass Schabunins Familie zunächst das Recht verwehrt wird, einen Anwalt zu rufen. Sogar seinen Kindern seien die Tablets weggenommen worden, sagt sie. Angesichts der Vorwürfe - selbst wenn sie zuträfen - sei das völlig unangemessen. 

2019 versprach Selenskyj, die Korruption zu beenden - und heute?

All das sei ein gezielter Einschüchterungsversuch, ist sie überzeugt - und erhebt schwere Vorwürfe gegen Präsident Wolodymyr Selenskyj. "Das ist ein wichtiges Signal an die kritischen Nicht-Regierungsorganisationen, auch an Soldaten: Wenn ihr Selenskyj und sein Präsidialamt öffentlich kritisieren solltet, können wir euch vernichten und dafür den ganzen Willkür-Apparat einsetzen", sagt die Aktivistin. "Im aktuellen Kriegszustand engt das die Demokratie und demokratische Institutionen noch mehr ein."

Im Präsidentschaftswahlkampf 2019 trifft sich Selenskyj noch mit Schabunin, positioniert sich als Kandidat, der die Korruption beenden will. Doch daran, dass er diesem Versprechen gerecht wird, werden immer mehr Zweifel laut.

Zivilgesellschaft schreibt offenen Brief an Selenskyj

Internationale Beobachter sind beunruhigt über den Vorgang. "Wie gegen Schabunin vorgegangen wird, wie gegen ihn ermittelt wird, das wirkt wie politische Verfolgung, wie Rache gegen jemanden, der sich mit den Mächtigen angelegt hat", sagt Ukraine-Experte und Politikberater Mattia Nelles. "Das wirft große Fragen auf und hat mit dem EU-Kurs der Ukraine herzlich wenig zu tun."

Dass Schabunin für seine scharfe Kritik unter Druck gesetzt wird - davon sind auch die meisten Vertreter der Zivilgesellschaft überzeugt. 90 Nichtregierungsorganisationen wenden sich in einem offenen Brief an Präsident Selenskyj.

Staatliches Ermittlungsbüro "nicht unabhängig"

Sie fordern: Die Justiz dürfe nicht politisch missbraucht werden. Auf Anfrage der ARD will sich das Präsidialamt nicht zu den Vorwürfen äußern. Mit dem Vorgehen des Staatlichen Ermittlungsbüros habe man nichts zu tun. Nelles ist anderer Meinung: "Diese Behörde ist nicht unabhängig. Diese Behörde wird noch kontrolliert von der Politik und deshalb ist es wichtig, dass wir da genau hinschauen. Dass es sich hier um politische Verfolgung handelt, liegt nahe", erklärt der Beobachter.

Die Empörung ist auch deshalb so groß, weil sich die Vorwürfe gegen Selenskyj häufen - gerade in Korruptionsfragen. Das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) verdächtigt den engen Selenskyj-Vertrauten, Ex-Einheitsminister Oleksij Tschernyschow. Statt sich dazu zu äußern, ließ Selenskyj das Ministerium jüngst einfach auflösen.

Tschernyschow nahm er damit stillschweigend aus der Schusslinie. Ein weiterer Vorgang, der Korruptionswächter aufhorchen lässt, betrifft das "Büro für ökonomische Sicherheit" (BEB), das Steuerbetrug verfolgen soll. Dort sollte ein vakanter Direktorenposten besetzt werden.

EU-Abgeordnete Strack-Zimmermann: "Wir schauen hin"

"Die Auswahlkommission hat einen Kandidaten bestimmt. Aber die Regierung hat sich geweigert, ihn einzusetzen", sagt Darija Kalenjuk. Sie habe sich auf einen geheimen Brief des Geheimdienstes SBU berufen, so die Geschäftsführerin des Zentrums für Korruptionsbekämpfung. Dabei hätten weder der Kandidat noch die Öffentlichkeit offiziell erfahren, weshalb der ausgewählte Kandidat - ein Ermittler im Nationalen Antikorruptionsbüro (NABU) - untragbar sein solle. Die Regierung ignoriere hier einfach das Gesetz, sagt Kalenjuk, die sich hier eine Reaktion internationaler Partner der Ukraine gewünscht hätte.

In Brüssel verfolgen Parlamentsabgeordnete wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann aufmerksam die Entwicklungen: "Für Beitrittskandidaten zur Europäischen Union, wie die Ukraine, ist die Rechtsstaatlichkeit ein Kriterium, das nicht verhandelbar ist." Präsident Selenskyj müsse aufpassen, dass er sein Land auf Kurs Richtung Demokratie halte.

Die EU dürfe die innenpolitischen Vorgänge in der Ukraine nicht aus dem Auge verlieren, sagt Strack-Zimmermann. "Wir schauen hin, denn die Rechte einzuhalten, die Bürgerrechte einzuhalten - das gehört einfach dazu", erklärt die FDP-Politikerin gegenüber der ARD

Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung - das sei auch die Erwartung innerhalb der ukrainischen Gesellschaft, meint Ukraine-Experte Nelles. Die Mehrheit der Menschen fordert notwendige Reformen ein - und das mit Vehemenz: Die Menschen in der Ukraine "würden niemals zulassen, dass sich ein Selenskyj oder jemand anderer zu einem autokratischen Herrscher aufschwingt", ist Nelles überzeugt.

Die Ermittlungen gegen Schabunin dauern indes an. Der Aktivist ist zu seiner Einheit nach Charkiw zurückgekehrt. Er will die Ukraine weiter verteidigen - gegen die russische Aggression von außen und gegen die Korruption im Inneren.

Florian Kellermann, ARD Kiew, tagesschau, 21.07.2025 13:35 Uhr

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