Ehemaliger Schüler schreibt Roman über den Amoklauf von Erfurt
- In "Die Ausweichschule" arbeitet Kaleb Erdmann den Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt auf, den er selbst miterlebt hat.
- In dem Roman stellt er die Frage: Wie kann man aus einer Katastrophe Kunst machen – ohne sensationalistisch zu sein?
- Erdmann will mit seinem Buch einen Anstoß zum Austausch geben.
Als am 26. April 2002 der 19-jährige Robert Steinhäuser im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und sich selbst tötet, ist der Ich-Erzähler von Kaleb Erdmanns zweitem Roman gerade in der Schule. "Ich habe die Pumpgun auf Robert Steinhäusers Rücken gesehen, auch wenn ich sie im ersten Moment für ein Schwert hielt und Steinhäuser für einen Ninja", heißt es in "Die Ausweichschule".
Erinnerungen an den Amoklauf in Erfurt
Über Jahre hinweg versucht sich der Protagonist daran, seine Erlebnisse literarisch zu erzählen, doch irgendwie gelingt es ihm nicht. Die Frage, wie er über ein Ereignis wie den Amoklauf berichten kann, ohne sensationalistisch zu werden, treibt ihn immer wieder um. Bloß nicht wie ein True-Crime-Podcast klingen. Erst eine Begegnung mit einem Dramatiker, der ein Stück über den Amoklauf schreiben will, bringt die Wende für den Protagonisten. Er konfrontiert seine Erlebnisse.

Der Autor Kaleb Erdmann hat den Amoklauf von Erfurt als Fünftklässler selbst miterlebt, genauso, wie er es im Buch aufgeschrieben hat: "Ich habe Robert Steinhäuser gesehen. Allerdings keine unmittelbare Gewalt, auch kein Blut, keine Toten. Ich hatte in dem Zusammenhang einfach Glück, wenn man das so sagen will."
Ich habe Robert Steinhäuser gesehen.
Obwohl auf dem Cover "Roman" steht, sei ihm wichtig gewesen, an Steinhäusers Tat und seiner Perspektive nichts zu fiktionalisieren, sagt er im Gespräch, "weil mir früh klar war, dass ich nicht allein in dieser Geschichte bin; dass es immer noch Angehörige gibt und Menschen, die den Amoklauf selbst erlebt haben und heute noch in psychologischer Behandlung sind."

Die Rolle eines Schriftstellers
Dass er irgendwann über den Amoklauf von Erfurt und seine Erlebnisse schreiben wolle, sei für ihn schon sein "ganzes literarisches Leben" klar gewesen. Wie bei seinem Protagonisten seien auch bei ihm mehrere Anläufe für Romane gescheitert.
Dass er es nun doch geschafft habe, liege aber nicht an einem einzigen Aha-Moment, eher an mehreren kleinen. Etwa an der Begegnung mit dem Dramatiker Björn SC Deigner, der Erdmann für die Arbeit an seinem Theaterstück "Tiefer Grund" kontaktiert hat. Und der – fiktionalisiert – als "der Dramatiker" auch in Erdmanns Roman auftaucht, genauso wie die Gespräche, die die beiden geführt haben.

Besonders wichtig für "Die Ausweichschule" sei aber ein anderer Autor gewesen, erzählt Kaleb Erdmann: Emmanuel Carrère. Der Franzose ist berühmt für seine autofiktionalen Bücher wie "Der Widersacher", in denen er nicht nur von beklemmenden Gewalttaten erzählt, sondern auch sein eigenes Verhältnis als Autor zur Geschichte reflektiert. Dieses Verhältnis beschäftigt auch den Ich-Erzähler in Erdmanns Roman – und natürlich auch den Autor selbst: "Was ist eigentlich meine Rolle als Schriftsteller in dieser ganzen Sache, was ist eigentlich die Moral des Schreibens und habe ich überhaupt das Recht, mir so eine Geschichte 'zu nehmen'."
Wie schreibt man über Katastrophen?
Mit diesen Fragen geht "Die Ausweichschule" sehr offensiv um, wälzt sie hin und her. Oft mit dem Ergebnis, dass der Protagonist bei seinem Romanprojekt über Erfurt doch wieder in einer Sackgasse landet. Erdmanns Roman wirft dabei aber auch Fragen auf, die weit über seine konkrete Geschichte hinausgehen: Denn wie man gut von einer Katastrophe erzählen kann, wann der richtige Zeitpunkt dafür ist und wer der richtige Erzähler, das alles sind Fragen, die in der Literatur immer wieder debattiert werden.

Dass Erzählversuche auch spektakulär scheitern können, zeigt die Kontroverse um Ines Geipels Versuch, den Amoklauf von Erfurt literarisch zu fassen. 2004 erschien ihr Buch "Für heute reichts". Bei einer Lesung in der Erfurter Kaufmannskirche wurde die Autorin von damals aufgebrachten Erfurtern niedergebrüllt – eine Episode, die man in "Die Ausweichschule" en detail nachlesen kann.
Lesung und Austausch in Erfurt
Auch Kaleb Erdmann will seinen Roman in Erfurt vorstellen – nicht in einer Kirche, sondern in einer Buchhandlung. Nervös sei er davor nicht, sagt er. Er freue sich eher auf den Austausch. "Ich würde mir wünschen, dass das Buch als Angebot zur Debatte und zum Gespräch darüber wahrgenommen wird, wie sich diese Tat bis heute fortsetzt oder was geblieben ist." Wie der Amoklauf von Erfurt bis heute nachwirkt beschreibt "Die Ausweichschule" in jedem Fall mit beeindruckender Behutsamkeit.
Man kann die Sache nicht so abhaken.
Auf die Frage, ob er sich mit dem Roman seine Erlebnisse von der Seele geschrieben habe, zögert Erdmann. Dann stellt er klar: Das Nachdenken über Erfurt müsse weitergehen. "Man kann die Sache nicht so abhaken. Das kann nicht Aufgabe der Literatur sein."
Redaktionelle Bearbeitung: az
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