• Jedes fünfte Kind wächst in Armut auf – jedes vierte im Osten.
  • Forscher Jörg Fischer findet das für ein reiches Land "unwürdig".
  • Klimafolgen und unverarbeitete Konflikte der Eltern belasten.

"Prävention wird eines der großen Themen auf dem Kinder- und Jugendhilfetag", sagt Jörg Fischer, Leiter und Professor am Institut für kommunale Planung und Entwicklung in Erfurt. Ein Spezialgebiet von ihm ist auch das Aufwachsen in Ostdeutschland. Darüber hat er im Vorfeld der Tagung in Leipzig im Interview mit MDR AKTUELL gesprochen.

MDR AKTUELL: Der Kinder- und Jugendhilfetag findet dieses Jahr in Leipzig statt, Sie sind mit einem Vortrag eingeladen. Was passiert auf diesem Kongress?

Professor Jörg Fischer, Leiter des IKPE in Erfurt, ThüringenBildrechte: Institut für kommunale Planung und Entwicklung e. V.

Jörg Fischer: Der Kinder- und Jugendhilfetag ist eine Art Olympische Spiele der Kinder- und Jugendhilfe. Das heißt, dort treffen sich alle vier Jahre mehrere tausend Akteure, die sich in der Praxis und in der Forschung mit der Kinder- und Jugendhilfe beschäftigen. Und es trifft sich auch die Politik, die die Kinder- und Jugendhilfe mit unterstützt. Es geht darum, aktuelle Themen aufzugreifen.

Welche drängenden Probleme gibt es?

Wir stellen große Veränderungen im Aufwachsen bei Kindern und Jugendlichen fest, auf die es zu reagieren gilt. Es geht weiterhin darum, Antworten zu finden für den Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen: vom demografischen Wandel über die Auswirkungen des Klimawandels bis hin zur Frage, welche Konsequenzen sich aus den gravierenden Veränderungen in der Welt für Kinder und Jugendliche ergeben. Hinzu kommt die große Herausforderung, sich mit den finanziellen Veränderungen innerhalb der Hilfen zu befassen.

Sie haben von Themen gesprochen, ich von Problemen. Was sind positive Themen, die beim Kinder- und Jugendhilfetag besprochen werden?

Kinder und Jugendliche befinden sich tatsächlich in einer nicht einfachen Lage. Wir betrachten deshalb die Zukunft mit einer gewissen Sorge. Der 17. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, der im letzten Jahr veröffentlicht wurde, hat das ebenfalls herausgestellt. Junge Menschen haben weiter mit den Folgen der Pandemie zu tun und die Zukunftsaussichten stimmen auch nicht unbedingt optimistisch.

Und dennoch: Wir sehen eine junge Generation, die mit Zuversicht aufwächst, die an sich glaubt, die weiß, was sie kann und die pragmatisch mit Krisen umgehen kann. Aber dafür brauchen junge Menschen Vertrauen. Und das müssen wir als Kinder- und Jugendhilfe gewährleisten.

Wie reagieren Kinder und Jugendliche auf die anhaltenden, neuen und alten Krisen?

Kinder und Jugendliche sehen sehr genau, was in der Welt passiert. Sie sehen, welche Gefahren, welche Risiken, welche Chancen sich ergeben. In der Mehrheit wachsen die Kinder und Jugendlichen in Deutschland sehr wohlbehalten auf. Noch nie waren so viele junge Menschen so zufrieden mit der Erziehung und dem Umgang mit ihren Eltern. Noch nie gab es so viele junge Menschen, die sagen, wenn sie selbst Mutter oder Vater sein sollten, sie ihre Kinder so erziehen möchten, wie sie selbst erzogen wurden. Das sind positive Aspekte.

Gleichzeitig sehen sie aber auch die Herausforderungen, die auf sie zukommen, mit denen sie zu tun haben und wo sie selbst Antworten finden müssen, denn die ältere Generation kann ihnen dabei nicht helfen. Ein Beispiel ist etwa der Umgang mit den Klimafolgen oder die der digitale Wandel.

Welche Entwicklung gibt es aktuell, was Gewalt und Armut bei Kindern und Jugendlichen angeht?

Wir erleben im Kinderschutz derzeit eine Entwicklung, bei der wir eine verstärkte Anzahl an Kinderschutzfällen zu verzeichnen haben. Das ist einerseits darauf zurückzuführen, dass es tatsächlich zu einem objektiven Anstieg bei Kinderschutzfällen kommt, dass die Zahl also größer wird. Das ist auch eine Folge der Corona-Pandemie.

Zum anderen haben wir einen genaueren Blick der Gesellschaft, einen genaueren Blick der Jugendämter und einen höheren gesetzlichen Anspruch. Die höheren Zahlen sind also einerseits Ausdruck von veränderten Entwicklungen der Rahmenbedingungen, zum anderen aber auch tatsächlich objektiven Veränderungen in der Gesellschaft geschuldet.

Mit Blick auf Armut lässt sich festhalten, dass wir stagnierende Zahlen haben. Jedes fünfte Kind wächst in Deutschland unter Armutsbedingungen auf. Das ist einem reichen Land wie Deutschland unwürdig. Was uns dabei vor allem Sorge bereitet, ist, dass die Dauer in Armut deutlich steigt. Damit werden die Folgen für Kinder gravierender. Und das sind Kinder, die nicht gefragt wurden, ob sie arm sein wollen. Sie sind in einer Zwangssituation.

In welcher Weise sind Kinder und Jugendliche aus Ostdeutschland speziell davon betroffen? Oder: Wie unterscheidet sich das Aufwachsen in Ostdeutschland vom Aufwachsen in Westdeutschland?

In der Kommission des 17. Kinder und Jugendberichts haben wir lange diskutiert, wie sich das Aufwachsen in Ostdeutschland gerade verändert. Unsere Erwartung war, dass es hier zu einer weiteren Anpassung zwischen ostdeutschen und westdeutschen jungen Menschen kommt. Die Zahlen sprechen aber eine andere Sprache. In Ostdeutschland wächst jedes vierte Kind in Armut auf.

Bei Workshops, die wir Kindern und Jugendlichen aus Ostdeutschland durchgeführt haben, haben wir festgestellt, dass die Kinder und Jugendlichen einer doppelten Belastung ausgesetzt sind. Zum einen, ihr eigenes Aufwachsen zu entwickeln. Selber zu schauen, wie man sich vom Kind und Jugendlichen hin zum Erwachsenen entwickelt. Das ist eine ganz normale Herausforderung.

In Ostdeutschland wächst jedes vierte Kind in Armut auf.

Jörg Fischer, Leiter des IKPE in Erfurt

Junge Menschen in Ostdeutschland erleben ihre Eltern darüber hinaus als verunsichert. Sie erleben ihre Eltern teilweise als schwach, und kein Kind auf der Welt möchte seine Eltern schwach erleben. So übernehmen sie eine anwaltschaftliche Funktion und übernehmen häufig auch die Deutung ihrer Eltern bei Konflikten. Wir stoßen in den Äußerungen von Kindern und Jugendlichen ganz häufig auf Äußerungen und Meinungen, die bei weiteren Nachfragen von ihren Eltern stammen.

Es gibt den Ausspruch "die Neunziger sind zurück", wenn es unter anderem um das Aufwachsen im Osten geht. Sind damit auch rechte, rechtsextreme Positionen gemeint, die Kinder von ihren Eltern übernehmen?

Wir erleben bei den jungen Menschen in Ostdeutschland einerseits Argumente, die auf unverarbeitete Prozesse der Elterngeneration, wenn es etwa um die Wende geht, schließen lassen. Es geht aber auch um die Frage der Wertschätzung innerhalb der Gesellschaft. Und um Fragen nach gesellschaftlichen Veränderungen, nach unverarbeiteten Konflikten und teilweise auch um den Rechtsradikalismus in Ostdeutschland.

Welche Lösungen und welche Hoffnungen haben Sie für von Armut, Gewalt und Krisen betroffene Kinder und Jugendliche?

Wir erleben Kinder, die ziemlich genau wissen, was ihnen guttut und die eine klare Idee davon haben, wie sie leben möchten. Dementsprechend ist die Hoffnung und die große Chance, Antworten auf Fragen zu finden, indem wir mit den Kindern und Jugendlichen ins Gespräch kommen, ihnen zuhören, sie beteiligen. Wir wollen nicht über sie, sondern mit ihnen reden. Dabei kommen immer wieder sehr erstaunliche Erkenntnisse hervor, auf die wir als Erwachsene häufig gar nicht kommen.

Es ist der große Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe, genau solche Räume und Gelegenheiten zu schaffen, bei denen Kinder gehört werden. Zum Beispiel in Jugendhäusern, Jugendclubs oder über Angebote der sozialen Arbeit in der Schule bis hin zu Jugendparlamenten. Wir erleben ein beeindruckendes Engagement, das aber auch gefördert werden muss und wo wir von der Politik Unterstützung brauchen.

MDR AKTUELL (nw, ksc)

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