MDR AKTUELL: Das Berlin-Institut hat 2019 mit dem "Teilhabeatlas Deutschland" bereits die Teilhabechancen in unserem Land untersucht. Warum hat man sich entschieden, noch einmal konkret auf Kinder und Jugendliche zu schauen?

Catherina Hinz: Weil Teilhabechancen für Kinder und Jugendliche besonders wichtig sind und auch ihre Bildung betreffen. Sie entscheiden darüber, wie sie sich entfalten können und letztlich auch über ihre Zukunft. Wir müssen dafür sorgen, dass die Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen so gestaltet sind, dass alle möglichst den gleichen Zugang haben. Was sie dann daraus machen, ist eine andere Frage, aber zumindest sollte sich die Politik auf Bundes-, Landes- aber auch kommunaler Ebene darum bemühen, Chancengleichheit herzustellen. Das ist gerade in einer alternden Gesellschaft wichtig, wo wir auf jeden kreativen Kopf und jede Bürgerin und jeden Bürger angewiesen sind.

Wir glauben, dass wenn Kinder und Jugendliche das Gefühl haben, dass sie ihr Umfeld mitgestalten können, eine Selbstwirksamkeitserfahrung machen und sich dann später auch für eine demokratischen Gesellschaft engagieren – Wenn sie merken: Das bringt was, wenn ich mich hier einbringe. Meine Stimme wird gehört. 

Was waren die überraschendsten Ergebnisse ihrer Studie?

Wir haben die Teilhabebedingungen zunächst einmal versucht aufgrund von Indikatoren wie Kinderarmut, Jugendarbeitslosigkeit, Schulabgängern ohne Schulabschluss und Infrastruktur die Lebensverhältnisse möglichst objektiv in der statistischen Analyse abzubilden. Da haben wir gesehen, dass sich ein sehr unterschiedliches Bild der Teilhabebedingungen zeigt. Dass die Teilhabebedingungen je nach Wohnort so unterschiedlich sind, hat uns erschrocken.

Als wir dann aber wiederum in die acht Regionen gegangen sind, die wir besucht haben, war das, was uns die Jugendlichen berichtet haben, sehr ähnlich. Sie wollen Selbstbestimmung – also im ländlichen Raum ohne Eltern-Taxi unterwegs sein, die Schule erreichen, sich mit Freunden treffen, zum Fußballverein oder Musikunterricht. Gerade im ländlichen Raum, wo die Busverbindungen nicht so toll und Rad- und Fußwege nicht immer gut ausgebaut sind, ist das wirklich ein Problem.

Wir reden zwar von einer schwindenden demografischen Gruppe, aber einer sehr vielfältigen. Die Bedürfnisse sind je nach Alter ganz unterschiedlich. Kinder und Jugendliche brauchen möglichst vielfältige Angebote, die ihren Interessen nachkommen – also, dass es zum Beispiel nicht nur Fußballtraining gibt, sondern eine Varianz bei den Sportangeboten.  

Beteiligung war auch ein wichtiger Punkt – also, dass die jungen Menschen das Gefühl haben, dass sie viele Ideen haben, aber nicht gehört werden. Es gibt zwar in vielen Gemeinden auch Jugendparlamente oder Jugendbeiräte, aber oftmals haben dazu nur wenige Kinder und Jugendliche Zugang. Entweder ist es nicht bekannt genug oder es sind dann immer die gleichen, die daran teilnehmen, also aus wohlhabenderen, besser gebildeten Haushalten. 

Deswegen braucht es niedrigschwellige Möglichkeiten der Mitgestaltung. Jugendtreffs und Jugendclubs sind Möglichkeiten, wo gerade Kinder und Jugendliche aus ärmeren Haushalten Teilhabemöglichkeiten haben, wo sie einfach hingehen können. Denn wenn man wenig Geld hat, ist es auch nicht so einfach Orte zu finden, an denen man sich gerade an Regentagen oder im Winter aufhalten kann, wo man geschützt ist und auch ein Klo in der Nähe ist – also so banal sind zum Teil die Bedürfnisse.

Mich hat das besonders bewegt, weil ich auf dem Land groß geworden bin, im Kreis Segeberg in Schleswig-Holstein. Dort ist nach 45 Jahren die Bushaltestelle immer noch der einzige öffentliche Raum im Ort. Da muss wirklich etwas passieren! 

Also haben Kinder und Jugendliche unabhängig von den Teilhabemöglichkeiten vor Ort die gleichen Bedürfnisse?

Ja, generell ist es wirklich so, dass die allermeisten Jugendlichen immer wieder die gleichen Themen aufgebracht haben, zum Beispiel, dass sich viele im öffentlichen Raum unerwünscht fühlen. Deshalb ist es wichtig, dass Gemeinden dafür sorgen, dass nicht nur Touristen in der Stadtmitte willkommen sind, sondern auch junge Leute ihren Platz im öffentlichen Raum haben und ihn mitgestalten können. In vielen Gemeinden, gerade auf dem Land gibt es ja Leerstand. Warum nicht ein leer stehendes Gebäude für einen neuen Jugendtreff nutzen? Da glaube ich, muss die Politik zum Teil einfach auch mutiger sein und den Jugendlichen was zutrauen.

Wir haben von den Jugendlichen erfahren, dass sie manchmal selbst dort stören, wo eigentlich ihr Ort ist, zum Beispiel auf dem Spielplatz. Das kann ja auch nicht sein. Ich glaube, es braucht einfach noch eine größere Toleranz – auch im Umgang miteinander – und eine Haltungsänderung, dass wir gerade in einer alternden Gesellschaft den Kindern und Jugendlichen Chancen bieten müssen und sie für unsere Zukunft und unseren Wohlstand brauchen.

In ihrer Studie heißt es unter anderem, dass es in Ostdeutschland durch die Infrastruktur aus DDR-Zeiten bis heute mehr Betreuungsangebote gibt als im Westen. Wie unterscheiden sich die Teilhabemöglichkeiten in Ost- und Westdeutschland?

Gerade bei der Betreuungsquote hat man das sehr stark gemerkt, also, dass es im Osten genügend Betreuungsplätze gibt, was natürlich nicht bedeutet, dass überall die Qualität gleich gut ist. Aber das bleibt eben von der Geschichte: Im Ost West-Vergleich ist die Betreuungssituation von Kindern besser als im Westen.

Wenn man generell auf die Teilhabebedingungen guckt, ergibt sich das Bild, dass die Teilhabechancen im Süden generell besser sind als im Norden. Also je weiter man nach Norden kommt, desto schwieriger werden die Teilhabebedingungen. Es kommt immer auf den Indikator an, ob man Kinderarmut oder den Anteil von Jugendlichen ohne Schulabschluss oder Jugendarbeitslosigkeit betrachtet, wobei sich diese Indikatoren oft ballen, wenn sie da sind. Der Stadt-Land-Unterschied ist oftmals größer als der Ost-West-Unterschied. 

Im Teilhabeatlas formulieren Sie konkrete Handlungsempfehlungen für die Politik. Was kann darüber hinaus jeder Einzelne für die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen tun?

Ich glaube, ganz wichtig ist das Engagement in Vereinen. Aber man kann sich natürlich auch in der Gemeindearbeit engagieren, immer wieder diese Perspektive mit einbringen und die Kinder und Jugendlichen unterstützen – oder auch, wenn zum Beispiel Räume zur Verfügung stehen, sagen: Warum können wir diesen Raum nicht Kindern und Jugendlichen zur Verfügung stellen? 

Und natürlich sich immer wieder an die eigene Nase zu fassen, wenn man im öffentlichen Raum unterwegs ist und nicht wieder mal schimpfen oder die Nase rümpfen, wenn man vor dem Supermarkt eine Gruppe von jungen Menschen sieht, die dort abhängen und sie nicht schief angucken, sondern einfach mal ein kleines Lächeln aufbringen. Ich glaube, wenn man etwas tun will, sollte man einfach auf die jungen Menschen zugehen.

Mehr zum "Teilhabeatlas"

Die Studie "Teilhabeatlas Kinder und Jugendliche" basiert auf einer umfangreichen Analyse von statistischen Daten aus den 400 Kreisen und kreisfreien Städten in Deutschland. Untersucht wurden unter anderem der Anteil der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen, Schulabgänger ohne Schulabschluss, die Erreichbarkeit von Bushaltestellen, Schulen und Kinderarztpraxen.

Außerdem führten die Autoren Gespräche mit über 200 Kindern und Jugendlichen, sowie 39 Fachkräften aus der Kinder- und Jugendarbeit. Dafür wurden acht Regionen besucht, in denen es unterschiedliche Teilhabemöglichkeiten gibt. Ausgewählt wurden Ingolstadt, Weimar, Wuppertal, der Wetteraukreis, der Neckar-Odenwald-Kreis, Potsdam-Mittelmark, Segeberg und Görlitz.

MDR (akq)

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