Wenn ein Mensch geboren wird, wenn ein Mensch stirbt, ein Geburtstag ansteht, der Eintritt ins Jugendalter, ins Erwachsenen-Leben, eine Hochzeit: Momente, an denen Familien zusammenkommen und miteinander Zeit verbringen. An den "großen Feiertagen" haben viele Menschen frei, Schulen, Kindergärten, Bibliotheken, Ämter pausieren, egal, ob jemand religiös ist oder nicht. Wie werden diese Auszeiten miteinander verbracht, wer bestimmt, wie Familien diese Pausen vom Alltag gestalten, auch ohne den oft verbindungsstiftenden religiösen "Klebstoff"?

Aus Sicht der Forschung ein spannendes Feld, besonders beim Blick auf eine Gesellschaft im Wandel wie in Ostdeutschland. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sind heute nur noch etwa 16 Prozent der Menschen konfessionell gebunden. Wie wird Familienleben gestaltet, welche Werte, Traditionen gepflegt, welche nicht, wer bestimmt darüber?

Im Beruf Lehrer, daheim Vater, vielleicht noch im Ehrenamt als Fußballtrainer oder Elternvertreter der eigenen Kinder: Viele Rollen in einem Leben treffen in der Familie zusammen.Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Robert Michael

Genau das hat Dr. Hagen Findeis von der Martin-Luther-Universität Halle mit seinem Team im Projekt "Religiosität in ostdeutschen Familien" untersucht. Im Gespräch mit MDR WISSEN schildert er das Spannungsfeld, in dem sich Familien bewegen: "Alle erfüllen verschiedenste Rollen, als Arbeitnehmer, als Verkehrsteilnehmer, als Menschen, die Hobbys nachgehen, als Eltern, als Kinder. Und In der Familie treffen alle diese Rollen auf einmal aufeinander. Dadurch hat die Familie eine besondere Prägekraft."

Über drei Jahre dauerte die Studie, Familien mit mehreren Generationen begleiteten sich selbst, fotografierten aus ihrer Sicht typische Familienmomente und schilderten später in Leitfaden-Interviews, was ihr Leben prägt(e), was sie als typisch für ihre Familie empfinden und was sie als Familie ausmacht, welche Konflikte besprochen oder verschwiegen werden. Erst in Einzelgesprächen, dann im Zusammenhang mit den Fotos, in Familiengesprächen. Für alle Generationen war die Einstiegsfrage gleich, sagt Studienleiter Dr. Hagen Findeis: "Was haben Sie letztes Weihnachten gemacht? Dazu kann jeder etwas sagen, ganz gleich ob jemand religiös ist oder nicht." Enkelkindern wurden dann aber auch Fragen gestellt wie: Was denkst du, was den Eltern und Großeltern wichtig gewesen ist, ihm oder ihr mit auf den Weg zu geben?

Was formt Familien?

Auf Außenstehende können traditionelle Familienmomente seltsam wirken. Bildrechte: imago images/Westend61

Warum keine vorhandenen, ausgewählten Fotos aus dem Familienalbum? Das erklärt der Forscher so: "Die Fotos zeigen uns, bei welchen Gelegenheiten die Generationen überhaupt zusammenkommen. Sind das ebenso besondere Ereignisse? Oder sind es auch Alltagssituationen? Gibt es auch Situationen, die über die Familie hinausweisen, also zum Beispiel eine Familie, die intern gar nicht so sehr harmonisch ist?"

"Drei Nüsse für Aschenbrödel" oder "Der kleine Lord": Gehört für manche Familien zur Weihnachts-Tradition Bildrechte: IMAGO / United Archives

Das gemeinsame Tun, das die Fotos zeigen, öffnete dem Forschungsteam Einblicke ins Familieninnere. Hagen Findeis: "Zum Beispiel: Weihnachten gehen immer alle zusammen in den gleichen Gottesdienst. Oder: Weihnachten wird immer derselbe Film geschaut. Und wir haben auch eine dezidiert antireligiöse Familie, die im Januar immer zur Gedenkdemonstration für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Berlin geht und sich darüber auch als Familie definiert." Aber auch die Frage: "Worüber sind Sie sich einig, dass Sie uneins sind in der Familie?" sorgt ihm zufolge für rege Debatten, wenn die Enkel für Themen benennen, die Erwachsene eher meiden.

Gibt es "zeitlose" Familien-Werte, die einfach so übernommen werden?

Dr. Findeis verneint: "Es gibt keine Werte, die zeitlos einfach weitergegeben werden können. Die müssen sich immer wieder erworben werden." Konkret passiert das ihm zufolge in Ritualen im Alltag: "Dass man zum Beispiel gemeinsam in den Gottesdienst geht. Das die Eltern abends mit den Kindern ein Gebet sprechen oder ein Lied singen. Dafür ist Religion gut."

Beten vor dem Essen: Jeden Tag, nur Sonntags, nur an Festtagen. Oder gar nicht? Bildrechte: IMAGO/Pond5 Images

Familien können so soziale Orte sein, an denen Religion unabhängig und relevant ist, außerhalb von Gottesdiensten oder vom Ablauf des Kirchenjahres. Aber eben nur dann, wenn diese Momente vorgelebt oder weitergegeben werden. Das sind auch nicht unbedingt religiöse Praktiken. Allerdings gibt es Findeis zufolge in Familien auch Werte, die weitergegeben werden sollen: "Nicht nur von oben nach unten, von den Großeltern, Eltern auf die Kindern. Auch Kinderthemen spielen in die Familie ein." Hintergrund dafür: Ein gewandeltes Erziehungsbild, in dem Kinder auch mehr als Partner und gleichberechtigt wahrgenommen werden. Da werden Themen ausgehandelt, in der Ernährung, über Politik, der Umgang mit gesellschaftlichen Debatten.

Dr. Hagen Findeis stellte Anfang Mai bei einer Tagung Studienergebnisse vor.Bildrechte: Uni Halle

Und dann gibt es da in den meisten Familien eine Art "Keeper", die Bewahrer, beschreibt Findeis eine besondere Funktion in Familien: "Das sind Menschen, die darauf achten, was etabliert werden soll. Was ist unsere familiäre Identität? Was macht uns als Familie aus? Menschen haben die Neigung, etwas weiterzugeben, was sie selber wichtig finden. Die Kinder sollen so das wichtig finden, was ich auch wichtig finde. Im Prozess der Weitergabe wandelt sich, was weitergegeben werden soll, immer ein Stück." Vielleicht von der Forderung einzelner in der Familie nach rein vegetarischer Ernährung, dahin, dass die Familie ihren Fleischkonsum generell überdenkt und das Fleisch am Sonntag zur Ausnahme am Feiertag wird. Oder dass es o.k. ist, wenn nicht alle Kinder mit zur Familienfeier müssen, weil "sich das so gehört".

Großeltern sind nicht (zwingend) die Wahrer der Tradition

Auch große Kinder gehen moch gern auf Ostereier-Suche, selbst wenn sie längst nicht mehr an den Osterhasen glauben.Bildrechte: imago images/Shotshop

Ein Überraschungsfund der Studie für Hagen Findeis: "Nicht die Großeltern sind die Wahrer der Tradition, die quasi etwas von 'oben nach unten durchstellen', wie etwas gehandhabt wird in der Familie." Es kann auch andersherum gehen, wie die Studie zeigt, zum Beispiel, wenn in der Familie eine Diskussion über gesellschaftliche Themen zustande kommt wie über den Umgang mit Corona, den Ukraine-Krieg, über vegane Ernährung: "Da ist es dann nicht so, dass die die Eltern oder Großeltern automatisch sagen könnten, bei uns war das so und so gehandhabt, oder wir sehen das so und so. Es ist interessant, wie offen Familien sind, für Situationen, die entscheidungsoffen sind und wo es nicht von vornherein klar ist, wie wir das sehen oder zu sehen haben."

Religiös gebundene Menschen mobiler

Ebenfalls überraschend für den Wissenschaftler: "Von denjenigen, die mobil sind und ihre Herkunftsregion verlassen, sind mehr Menschen religiös und glauben an Gott als solche, die in ihrer Region bleiben. Und das ist überraschend, weil bisher die Annahme herrschte, das soziale Mobilität eher mit Risiken verbunden ist, besonders, wenn man eine religiöse oder kulturelle Orientierung hat, die nicht selbstverständlich unmittelbar anschlussfähig ist."

Treiben Krisen die Menschen zurück in die Spiritualität, in Kirchen, zum Glauben?

In einer verunsicherten Gesellschaft, in der viel "von schlimmen Zeiten, in denen wir leben", der Krisenhaftigkeit des Augenblicks gesprochen wird: Führt das zu einer Rückbesinnung auf Religiosität und Weitergabe an die Folgegenerationen?

Meditation nutzen manche Manschen auch als Auszeit, als Besinngunsort oder -moment. Bildrechte: imago images / Westend61

Für Hagen Findeis ganz klar: "Gesamtgesellschaftlich betrachtet, gibt es diese Hinwendung zur Kirche und zu Glaubensfragen nicht, sondern das genaue Gegenteil." Er führt aus: "Es ist nicht nur so, dass die Leute zunehmend die Kirchen verlassen oder ihre Kinder nicht mehr taufen lassen, sondern auch diejenigen, die in der Kirche sind, immer weniger an Gott glauben. Es gibt offensichtlich in der differenzierten, komplexen, pluralistischen Gesellschaft eine Fülle von Möglichkeiten mit den Fragen des Lebens, die früher religiös bearbeitet wurden, umzugehen."

Erwartungshaltung von Konfessionslosen an Christen

Kirche, Glauben, Religiosität: Den roten Faden suchen sich Familien offenbar selbst. Spannend findet Dr. Findeis welche Rolle Kirche an sich in der Gesellschaft zugewiesen wird: "Im Kontrast dazu steht erstaunlicherweise eine relativ hohe Erwartungshaltung an die Kirchen unter den Konfessionslosen. Man möchte, dass die Kirchen sich für die Armen und Schwachen in der Gesellschaft einsetzen. Man möchte, dass die Kirchen sich für Umweltschutz und die globalen Problemlagen einsetzen. Oder dass die Kirchen weiter Beratungsstellen für Obdachlose und Menschen in prekären sozialen Lagen unterhalten." Also eine Art Stellvertreterfunktion der konfessionell Gebundenen für die Konfessionslosen? Hagen Findeis sagt: "Auch die Konfessionslosen erwarten, dass Christen in den Gottesdienst gehen sollten. Dass doch noch ein paar Leute möglichst den Kontakt zu Gott aufrechterhalten, auch wenn man es selber nicht mehr für möglich hält."

Konfessionslose erwarten regelmäßigen Kirchgang von Christen. Bildrechte: picture alliance/dpa | Christoph Schmidt

Links/Studien

Mehr über die Studie Religiosität in ostdeutschen Familien finden Sie hier.

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