Wie selbstverständlich tragen sie ihre Messer in der Hosentasche: Es sind Jugendliche und junge Erwachsene in Berlin, Bremen oder Halle an der Saale: "Ich habe ein Klappmesser mit Totenkopfmuster dabei", erzählt ein Jugendlicher in einem Skatepark in Halle. "Es ist normal geworden, ein Messer zu tragen, aus Sicherheit", sagt ein anderer junger Mann.

Reporterin Laura Kipfelsberger hat diese jungen Männer getroffen und ist für eine Dokumentation auf Spurensuche gegangen:

Warum tragen junge Männer Messer in der Öffentlichkeit?

Das eigene Sicherheitsgefühl stärken: Kriminologin Britta Bannenberg von der Justus-Liebig-Universität Gießen sieht dieses Motiv immer häufiger. Sie wollte in einer Umfrage wissen: Was machen Sie, wenn Sie sich unsicher fühlen? Frauen würden Gegenden eher meiden oder Reizgas bei sich tragen.

Männer hingegen griffen zum Messer: "Männer bis 40 neigen dazu, Messer mitzuführen, um sich sicherer zu fühlen. Das haut zwar nicht hin, aber führt dazu, dass mehr Messer im öffentlichen Raum sind", erklärt die Kriminologin. Ein Messer in der Tasche schaffe keine Sicherheit, sondern erhöhe das Potential für Eskalation und schwere Verletzungen.

Laut dem Kriminologen Dirk Baier von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften hat Messerbesitz mit Identität und Status zu tun: "Das Messer ist einfach ein gutes Symbol, um zu zeigen: Ich bin ein gefährlicher Typ, mit mir legt man sich besser nicht an." Es seien Stereotype von Männlichkeit, die den Besitz von Messern so reizvoll machten. Darüber hinaus wirke auch der Gruppendruck: "Wenn andere in der Gruppe ein Messer haben, dann brauche ich auch eines."

Messerbesitz: Eine Frage des Geschlechts

Es gleicht einer globalen, kriminologischen Konstante: Männer im heranwachsenden Alter neigen zur "Dissozialität". Junge Männer testen gesellschaftliche Normen. Sie brechen häufiger Gesetze und begehen häufiger Straftaten. Messerbesitz und Messergewalt seien nur Symptome davon, erklärt Kriminologe Baier:

Dirk Baier forscht zur Gewaltentwicklung im deutschsprachigen RaumBildrechte: Dirk Baier

"Es ist ein Männerphänomen. Messergewalt ist ein Phänomen von Männern an Männern." Die polizeilichen Kriminalstatistiken zeigen dies überdeutlich. In Sachsen etwa sind neun von zehn Tatverdächtigen Männer. Acht von zehn Opfern sind ebenfalls Männer.

Messer galten auch früher als cool

Dagmar Ellerbrock hat den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Dresden inneBildrechte: TUD / Michael Kretzschmar

Ein ganz neues Phänomen ist das aber nicht. Die Historikerin Dagmar Ellerbrock von der Technischen Universität Dresden erforscht, wie sich der Waffenbesitz in der deutschen Gesellschaft entwickelt hat. Ihre umfangreichen Recherchen zeigen: Im 19. Jahrhundert war das Messer am Mann ein gewöhnlicher Ausrüstungsgegenstand: Im Alltag oder wenn Mann auf Reisen ging.

Doch das änderte sich: "Wir sehen Anfang des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Problematisierung", so die Historikerin. Ihre Quellen zeigen, dass die Gesellschaft nicht mehr bereit gewesen sei, den gewachsenen Gebrauch von Stichwaffen unter Jugendlichen hinzunehmen. Lehrer und Pfarrer – die moralischen Instanzen vergangener Tage – hätten dies immer häufiger kritisch besprochen und sanktioniert. In der Presse sei das Thema vermehrt aufgegriffen worden.

Erstes deutsches Waffengesetz schränkt Besitz und Gebrauch ein

Die Gesellschaft habe nach Regulierung verlangt, so die Historikerin: "Diese Bewegung wird nach dem ersten Weltkrieg erfolgreich. Wir haben 1928 das erste deutsche Waffengesetz, das sowohl Hieb- und Stichwaffen als auch private Schusswaffen reguliert", so Ellerbrock.

Mit dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes folgt eine weitreichende Demilitarisierung der Gesellschaft: Waffenbesitz wird immer verpönter, die Gesellschaft wird friedliebender und sicherheitsbewusster. Auch das sei ein Grund – so die Historikerin – warum der Aufschrei über die aktuellen Entwicklungen bei der Messergewalt so groß ausfalle.

Es ist ein Phänomen, was wir im 19. Jahrhundert schon mal hatten und was dort erfolgreich reguliert wurde: Durch Waffengesetze, aber auch durch Erziehungsprozesse.

Dagmar Ellerbrock, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Dresden

Waffenverbotszonen können helfen

Nach schockierenden Messerangriffen in der jüngeren Vergangenheit wurden im Oktober 2024 die Waffengesetze bundesweit verschärft: Veranstaltungen wie Volksfeste und Wochenmärkte, Orte wie Bahnhöfe aber auch Busse und Bahnen sollen seitdem messerfreie Zonen sein. Unabhängig davon, wie das Messer aussieht oder wie lang die Klinge ist.

Anlasslose Kontrollen auf Weihnachtsmärkten sind Teil der politischen Antwort auf steigende Messergewalt Bildrechte: picture alliance / Wolfgang Maria Weber | Wolfgang Maria Weber

Behörden können leichter Waffenverbotszonen einrichten: Dort können Polizeibeamte Messer aus dem Verkehr ziehen, erhöhte Geldstrafen zielen auf Abschreckung. Ein Messer darf nur dann getragen werden, wenn es noch in einer Tasche eingepackt ist. Immer mehr Städte weisen solche Zonen aus.

Die Kriminologin Britta Bannenberg sieht in Messerverbotszonen eine sinnvolle Maßnahme: "Gerade an den Hotspots der Kriminalität im öffentlichen Raum, wo viele Menschen unterwegs sind, wo viele junge Menschen zum Feiern zusammenkommen und das Eskalationspotential groß ist, können Waffenverbotszonen und pauschale Kontrollen die Sicherheit erhöhen."

Gerade die Männer, die für ihr eigenes Sicherheitsgefühl Waffen tragen würden, könnten davon abgehalten werden, ein Messer mitzuführen. Menschen, die es auf Gewalt abgesehen hätten, etwa im Bereich der organisierten Kriminalität oder im Umgang mit Drogen, würden durch solche Verbote eher nicht abgeschreckt, ist die Forscherin überzeugt. Laut den Forschenden ist die Datenlage in Sachen Messergewalt noch unzureichend.

Welche Rolle spielt die Herkunft?

Zahlen etwa aus der sächsischen Kriminalstatistik von 2024 zeigen, dass die Hälfte der Tatverdächtigen nicht-deutscher Herkunft ist. Forscherin Bannenberg plädiert dafür, die Herkunft nicht zu relativieren: Es gebe Zuwanderer aus Ländern, in denen gewaltvolle Erziehung und eigene Gewalterfahrungen deutlich ausgeprägter seien als in Deutschland. Allerdings sei Herkunft ein Faktor von vielen und die Frage nach Ursachen komplex.

Laut Dirk Baier müssten die Umstände berücksichtigt werden: Traumatische Fluchterfahrungen, mangelnde Perspektiven in Deutschland und die fehlende Integration könnten eigenes Gewaltverhalten begünstigen. Außerdem seien Nicht-Deutsche in den Kriminalstatistiken überrepräsentiert, da sie beispielsweise eher angezeigt würden.

Wendepunkt bei der Messergewalt?

Kriminologe Baier ist vorsichtig optimistisch, dass die Zahl der Messerangriffe einen Höhepunkt erreicht haben könnte: "Wenn Gewaltkriminalität ein Niveau erreicht, wo eine Gesellschaft das nicht mehr akzeptiert, dann wissen wir, dass das Ruder auch wieder herumgerissen werden kann."

Akteure aus der Zivilgesellschaft, Sozialarbeiter an Schulen und Polizeibehörden mit Schwerpunkten zu einzelnen Themen könnten Entwicklungen auch wieder umkehren. "Ich glaube, im Messerbereich sind wir in dieser Phase", so der Kriminologe. Er wirbt für einen nationalen Aktionsplan: Es brauche mehr Gelder für Sozialarbeit, für Kampagnen gegen Gewalt an Schulen und im öffentlichen Raum. Und es brauche intensivere Betreuung von Intensivtätern.

Die Historikerin Dagmar Ellerbrock sieht in Sachen Gewalt auch unterschiedliche Toleranzschwellen in der Gesellschaft: Verletzungen und Todesfälle im Straßenverkehr würden viel seltener skandalisiert als beispielsweise Angriffe durch Stichwaffen. Im vergangenen Jahr sind im Straßenverkehr dreimal so viele Menschen umgekommen wie durch Messerangriffe.

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