Lernmythen erleben manche uns schon, bevor sie geboren sind: Föten schwimmen begleitet von Mozartklängen im Fruchtwaser. Nach der Geburt hetzen wir den Nachwuchs von Zeitfenster zu Zeitfenster, um im richtigen Moment ein Ohr für Fremdsprachen zu entwickeln, das Musik- und Mathematik-Hirn anzuregen. Weiß ja schon der Volksmund: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!"

Ist das wirklich so? Dr. Michael Skeide ist Neurowissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und leitet die Forschungsgruppe Frühkindliche Lernentwicklung. Er hat in seinem Buch "Schlauer im Schlaf und andere Lernmythen. Wie die Hirnforschung die größten Irrtümer entlarvt und wie wir wirklich besser lernen" verschiedenste Weisheiten und die vermeintlichen Beweise dafür untersucht. Nutzen wir wirklich nur einen Bruchteil unseres Gehirns und der Rest liegt brach? Macht Gehirnjogging schlau? Mit Hilfe einer Wertungsskala ordnet er Untersuchungen zu verschiedensten Lernmythen ein und verrät Methoden, Studien und ihre Aussagekraft zu überprüfen.

Michael Skeide Bildrechte: MPI CBS

Im Gespräch mit MDR WISSEN hat er dabei auch einen Mythos als solchen entlarvt, der ihn selbst lange begleitet hat: "Ich bin habe tatsächlich lang daran geglaubt, dass man mit Kreuzworträtseln und Sudokus die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten verbessern kann, weil meine Oma sehr diszipliniert Kreuzworträtsel gelöst hat. Ich war fest davon überzeugt, dass man sich damit im Alter mit allen Denksportarten geistig fit halten kann." Das Rezept dafür enthält andere Zutaten, verrät Skeide, und die hat eigentlich jeder in die Wiege gelegt bekommen: "Der Schlüssel für lebenslanges Lernen ist Neugier. Eine Gabe, die uns allen mehr oder weniger gegeben ist."

Hans und Hänschen: Früh nicht gelernt, für immer Chance verpasst?

Der Wortschatz kann immer wachsen.Bildrechte: imago images/Future Image

Schauen wir zurück zum Hans und Hänschen Mythos: Was ist da dran? Immerhin ein Fünkchen Wahrheit, sagt Michael Skeide: "Das Problem bei dieser Weisheit ist, dass wir hier sehr stark verallgemeinert haben. Das würde ja bedeuten, das Leben sei eine Art Trauerspiel, bei dem, wenn es um geistige Fähigkeiten geht, alles den Bach runtergeht, schlechter wird und nichts mehr erlernt werden kann." Skeide widerlegt das und verweist auf ein wichtiges Gegenbeispiel. Unser Wortschatz wächst ein Leben lang. "Der Abruf dieses Wissens mag zwar langsamer werden, aber das Vokabular an sich, unser Wortschatz wächst ein Leben lang. Das ist ja eine positive Nachricht."

Es lohnt sich also genau hinzuschauen, wenn uns Lernmythen vermeintlich die Welt erklären. Achtung Spoiler-Alarm: Da geht es beim einen oder anderen ans eigene Weltbild. Man denke nur an Sätze wie "Frauen können schlechter räumlich denken". Dieser Unterschied ist statistisch kaum belastbar und hat weniger mit dem Gehirn als mit der kulturellen Prägung zu tun, weiß der Neurowissenschaftler: "Möglicherweise fangen wir als Eltern schon ganz früh damit an, mit Jungs und Mädchen unterschiedlich zu interagieren, unterschiedliche Spiele zu spielen, die unterschiedliche Fähigkeiten anregen."

Lebenslanges Lernen fängt im Babybauch an und damit der Optimierungs-Stress

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Und was ist mit den Zeitfenstern, man kann doch nicht früh genug mit der frühkindlichen Förderung anfangen? "Tatsächlich beobachten wir häufig, dass Eltern oder sogar werdende Eltern sich selbst viel Stress machen, wenn es darum geht, schon einen Bildungsplan für die ersten Lebensjahre zu erstellen möglichst optimalen Input zu liefern für spätere Karrieren." Skeide stellt in seinem Buch spannende Studien an, anhand derer er zeigt, warum alle etwas entspannter mit diesem Thema umgehen könnten.

Lernen mit Hans und Hänschen

Die Lernfähigkeit hat dem Wissenschaftler zufolge auch viel mit der Lebensspanne zu tun, wobei wir wieder bei Hans und Hänschen sind. In jungen Jahren ist es erst eine versteckte Drohung der Eltern, nach dem Motto "Wenn du das jetzt nicht lernst, lernst du es nie!" Später erfährt das Hans & Hänschen-Bild eine andere Bedeutung. Wer keine Lust hat auf Booking-Portale oder Drucker-Installationen, öde Haushalts-Aufgaben, auf neue Apps und Geräte, nutzt den Hans und Hänschen-Lernmythos vielleicht gerne mal als Entschuldigung den Kindern gegenüber: "Das hast du ja schon als Hänschen gelernt, das kannst du alles viel besser! Ich lern das eh nicht mehr!" Da könnte man mit einem anderen Lernmythos kontern: "Man wird alt wie 'ne Kuh und lernt immer noch dazu." Aber eben nur, wenn die eigene Neugier über die Bequemlichkeit siegt. Dann kann man eigene Lernmythen verabschieden, den neuen Drucker selbst installieren, neue Rezepte testen und mit Kindern oder Enkeln in Online-Welten verlieren. Oder man liest eben mal ein Buch über Lernmythen.

Neugier schließt in jedem Alter viele Türen auf. Bildrechte: IMAGO / Westend61

Das Buch

Schlauer im Schlaf und andere Lernmythen. Wie die Hirnforschung die größten Irrtümer entlarvt und wie wir wirklich besser lernen. Von Michael A. Skeide. MVG Verlag.

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