Bis zu sechs Monate müssen viele psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche auf einen geeigneten Therapieplatz warten - auch bei komplexen Erkrankungen. Fachleute sprechen von einer enormen Versorgungslücke.

Mias Eltern haben am Ende drei Jahre nach Hilfe für ihre Tochter gesucht. "Wenn ich diese Angst habe, bin ich oft einfach sehr nervös und in der Panik kann ich nicht mehr klar denken und diese Überforderung ist immer mit dabei", erzählt das 15-Jährige Mädchen aus Schleswig-Holstein und beschreibt damit ihre Angststörungen, Depressionen und Panikattacken.

Jahrelang sucht ihre Mutter nach einer geeigneten Therapie für ihre Tochter. Was Mia bekommt, sind vereinzelte Therapiesitzungen; mal alle vier, mal alle acht Wochen. Aber eine dauerhafte Therapie kriegt sie nicht. Mia geht es immer schlechter, bis eine Therapie bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten für sie nicht mehr ausreicht.  

Eine Studie der Universität Leipzig aus dem Februar dieses Jahres zeigt: Mia ist kein Einzelfall. Demnach warten Minderjährige im Schnitt sechs Monate auf einen leitliniengerechten Therapieplatz.

Kristin Rodney-Wolf ist Autorin der Studie und unterstreicht: "Wenn psychische Erkrankungen in Kindheit und Jugend nicht rechtzeitig behandelt werden, haben sie ein sehr hohes Risiko, sich zu chronifizieren." Darüber hinaus könnten weitere psychische Störungen hinzukommen.

Versorgungslücke im ambulanten Bereich

Für diese psychisch erkrankten Kinder und Jugendlichen hilft dann häufig nur noch ein Aufenthalt im stationären Bereich. Auch dort staut es sich, insbesondere auf dem Land.

Das berichtet Nadine Scharenberg, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Westküstenklinikum im schleswig-holsteinischen Heide: "Wir stehen mit dem Rücken an der Wand und sollen etwas auffangen, was wir gar nicht schaffen können."

Scharenberg spricht von einer "Notlage" im ambulanten Bereich: Im ganzen Kreis Dithmarschen gebe es keinen einzigen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater.

"Bedarfsplanung" nicht mehr zeitgemäß

Die zuständige Kassenärztliche Vereinigung in Schleswig-Holstein (KVSH) schreibt auf NDR-Anfrage hingegen, der Bedarf an niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatern sei zu mehr als 100 Prozent gedeckt - in ganz Schleswig-Holstein. Wie kann das sein?

Die Wissenschaftlerin Kristin Rodney-Wolf betont: "Das liegt einfach ganz grundsätzlich daran, dass diese 'Bedarfsplanung', die festlegt, wie viele Psychotherapeutinnen es braucht für Kinder und Jugendliche, nicht adäquat ist und auch nicht angepasst auf den Kindes- und Jugendbereich. Es ist eher eine recht willkürliche Festlegung, wie viele Therapeutinnen man da braucht."

Dahinter steckt folgendes System: Die Anzahl der Kassensitze von Ärzten und Psychotherapeuten, die ihre Leistungen mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen können, ist in Deutschland begrenzt.

"Geringe Zahl von Anfragen von Eltern und Jugendlichen"

Wie hoch das Verhältnis von Einwohnern zu Therapeuten zu sein hat, damit alle psychisch Erkrankten therapiert werden können, wurde in den 1990er-Jahren festgelegt; der sogenannte Soll-Zustand. Seitdem wurde bei der "Bedarfsplanung" immer wieder nachjustiert.  

Die KVSH betont, in den vergangenen Jahren habe es regional Zulassungen von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten im sogenannten Sonderbedarf gegeben. Dadurch seien Versorgungslücken geschlossen worden. "Auch die geringe Zahl von Anfragen von Eltern und Jugendlichen bei der Terminservicestelle sprechen für eine akzeptable Versorgung."

Wissenschaftlerinnen wie Kristin Rodney-Wolf entgegnen: Bei Kindern und Jugendlichen gilt die Art und Weise, wie der Bedarf an ambulanten Hilfen berechnet wird, nicht nur als nicht mehr zeitgemäß, sondern unter Fachleuten zudem als unzureichend.

Kinder- und Jugendpsychotherapeuten keine separate Gruppe

Konkret geht es dabei um niedergelassene Kinder- und Jugendpsychotherapeuten. Wie viele es bräuchte, um die ambulante Versorgungslücke zu schließen, wird bislang bei Minderjährigen nicht separat erfasst. Eine gesonderte Verhältniszahl von Betroffenen zu Psychotherapeuten gibt es für Kinder und Jugendliche demnach nicht.         

Um das zu ändern, müsste das Sozialgesetzbuch angepasst werden. Das größte Gesundheitsgremium in Deutschland, der sogenannte Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), wirkt an der "Bedarfsplanung" im Auftrag der Bundesregierung mit. In einer öffentlichen Stellungnahme spricht sich auch der G-BA für eine solche Änderung aus.

Im Koalitionsvertrag heißt es zur Bedarfsplanung: "Die Bedarfsplanung passen wir im Hinblick auf Kinder und Jugendliche und auf die Verbesserung der Versorgung im ländlichen Raum an (…). Ziel ist eine bessere Versorgung und die Stärkung der Resilienz unserer Kinder und Jugendlichen."

Doch was wie konkret bei der "Bedarfsplanung" passiert, lässt die Bundesregierung offen. Auf NDR-Anfrage hat sich das zuständige Bundesgesundheitsministerium bislang nicht dazu geäußert.

Auch nach der Pandemie stark psychisch belastet

Einig sind sich Politik, Ärzte und Therapeuten darin, dass bei Kindern und Jugendlichen grundsätzlicher Handlungsbedarf besteht. Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) kommt in der COPSY-Längsschnittstudie im April dieses Jahres zu dem Schluss, es brauche insbesondere frühe Hilfen.

Denn laut der Studie sind fast ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland auch nach der Corona-Pandemie psychisch belastet. Geleitet hat die Studie Ulrike Ravens-Sieberer. Im Interview mit dem NDR spricht Ravens-Sieberer von "Zukunftsängsten" bei Minderjährigen. Die Ursachen dafür seien vielfältig. Darunter: globale Krisen, Kriege, Klimakatastrophen, Terrorismus; ungefiltert zugänglich über den täglichen, stundenlangen Medienkonsum Minderjähriger.

Faktoren, die auch Erwachsene psychisch belasten. Deren Belastung sieht die Forschungsdirektorin des UKE als einen der Hauptrisikofaktor für Kinder und Jugendliche: "Was man nicht unterschätzen darf, ist, dass belastete Eltern auch vielfach ein belastetes Kind zur Folge haben. Das Risiko für Kinder, die belastete Eltern haben, selbst seelisch verwundbar zu sein, ist um ein Vielfaches größer."

Systematische Daten benötigt

Aus einer psychischen Belastung werde dann eine psychische Erkrankung, wenn der Leidensdruck bei Kindern und Jugendlichen hoch ist und lange anhält. Um dem entgegenzuwirken, regt die Studie aus Hamburg an, Schulpsychologinnen und Schulsozialarbeiter aufzustocken, damit betroffene Kinder frühestmöglich überhaupt als solche erkannt werden können.  

Die Wissenschaftlerin Kristin Rodney-Wolf von der Uni Leipzig sieht darüber hinaus dringenden Handlungsbedarf: "Wir brauchen auch systematische Daten zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und auch systematische Daten dazu, wie die versorgt werden. Das wäre auch eine staatliche Aufgabe, das zu überprüfen."

Mehr zu diesem Thema sehen Sie heute Abend um 21.15 Uhr bei Panorama 3 im NDR.

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