Ein Livekonzert kann den Oxytocin-Spiegel noch stärker erhöhen als körperliche Nähe – diese Meldung nach einem Konzert der Dresdner Musikfestspiele schlug Wellen. Nicht ganz unschuldig an dieser Sensationsmeldung dürfte Jan Vogler sein. Der Intendant der Musikfestspiele sagte der dpa: "Musik ist sogar besser als Küsse oder Sex", denn nach dem Konzert wurden bei den Zuhörenden Oxytocin-Konzentrationen von durchschnittlich 203,17 Pikogramm pro Milliliter gemessen. Vor dem Konzert lagen die Werte der Probanden durchschnittlich bei 37,54 pg/ml.

Laborergebnisse überraschen

Gemessen wurde das Hormon mittels Speichelprobe: 35 Teilnehmende gaben vor und nach dem Konzert eine Probe ab. Auch Clemens Kirschbaum, Biopsychologe und wissenschaftlicher Leiter des Experiments, sagt, er sei von den gemessenen Werten überrascht gewesen. Noch vor dem Konzert habe er auf dem Podium verkündet, er denke nicht, dass die Musik so stark wirke, um Oxytocin entsprechend auszuschütten. "Als ich dann aus dem Labor die Daten bekommen habe, habe ich mich sehr gewundert, wie groß die Veränderungen waren."

Dem Hormon "Oxytocin" werden viele positive Eigenschaften zugeschrieben: Es soll Stress, Angst und Schmerzen reduzieren und vor allem soziale Bindungen stärken. Deshalb hat sich der Name "Kuschelhormon" etabliert. Das sei aber eher ein Name, der dem Hormon vielleicht auch in der Medienberichterstattung zugeschrieben wurde. "Das bezeichnet aber nur einen ganz kleinen Bruchteil der Effekte von Oxytocin", betont Kirschbaum.

Beobachtungen des Bindungsverhaltens von Präriewühlmäusen

Bekannt wurde Oxytocin ursprünglich durch Beobachtungen an Präriewühlmäusen, erzählt der Biopsychologe. "Man hat zwei Stämme beobachtet, die einen haben die eher ungewöhnliche Eigenart, dass sie, wenn sie einmal einen Partner gefunden haben, ein Leben lang mit ihm zusammenbleiben. Und dann gibt es den zweiten Stamm, genetisch sehr eng verwandte Wühlmäuse, die haben Sex mit einem Partner und kümmern sich nicht um ihre Nachkommen, sondern lassen sich wieder mit neuen Individuen ein." Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Wühlmausstämmen liege im Gehirn. Man habe feststellen können, dass die eine Art in dem Bereich des Gehirns, der für die Partnerwahl verantwortlich sei, Oxytocin-Rezeptoren besitze, während die andere Art keine derartigen Rezeptoren habe.

"Das hat natürlich damals eine ganz große Welle von Forschung und Begeisterung in der neurowissenschaftlichen Welt ausgelöst", erzählt Kirschbaum. Bei Menschen kann man nicht so einfach ins Gehirn sehen, wie bei Mäusen. Aber die Forschenden wollten wissen, ob sich die entsprechenden Effekte auch beim Menschen wiederfinden lassen. "Man hat Menschen in mehreren Experimenten über viele Jahre Oxytocin via Nasenspray verabreicht und gesehen, dass tatsächlich der Anstieg des Oxytocin-Spiegels, den man über das Nasenspray bewirkt, tatsächlich Verhaltensänderungen der Testpersonen bewirken kann."

Oxytocin als Gegenspieler von Cortisol?

Oxytocin gilt darüber hinaus auch als eine Art Gegenspieler für das "Stresshormon" Cortisol. Clemens Kirschbaum hat viel zu Cortisol geforscht. Er sagt, häufig habe man beobachtet, dass Oxytocin steige und Cortisol parallel sinke: "Wir haben in einer Studie beobachtet, dass Personen in einer Stresssituation weniger Cortisol ausschütteten und auch weniger stark unter dieser Situation gelitten haben, wenn sie Oxytocin verabreicht bekamen." Von kausalen Effekten, also davon, dass das Oxytocin das Cortisol ursächlich senkt, wolle er aber noch nicht ausgehen.

Ob Musik "besser als Sex" ist, darf individuell unterschieden werden

Dass Oxytocin aber kein reines "Liebeshormon" ist, weiß man schon länger. Ursprünglich konnte man es bei Frauen während der Geburt nachweisen. Mittlerweile hat man das Hormon aber auch schon beim Tanzen und Singen, beim Einkuscheln in eine Decke oder beim Streicheln von Haustieren nachgewiesen. Dass nun auch während des Konzertes in Dresden ein Einfluss auf die Oxytocin-Ausschüttung festgestellt wurde, ist grundsätzlich nicht verwunderlich. Ob das Konzert nun, wie es Intendant Jan Vogler äußerte, "besser als Sex" war, bleibt wohl jedem selbst überlassen.

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Und macht es überhaupt einen Unterschied, ob wir Live-Musik hören oder nur eine Aufnahme? "Vom Gefühl her würde ich sagen, dass das Liveerlebnis, wenn es wirklich stark berührt, viel stärker ist, also viel größere biologische Effekte hat, als das Musikhören aus der Konserve." Das sei aber lediglich eine persönliche Einschätzung aus eigener Erfahrung, kein wissenschaftlicher Befund, betont Clemens Kirschbaum. Ihm ist, auch angesichts des Medienechos, wichtig: Es handelt sich aus wissenschaftlicher Sicht eher um eine Beobachtung als um ein richtiges Experiment. "Wir haben einfach nur den Hormonspiegel beim Hören von klassischer Musik gemessen, ohne weitere Bedingungen."

Links/Studien

Die Veranstaltung ist auch Thema im Podcast der TU Dresden.

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