CSD trifft Kirche: Wie der heilige Sebastian zur queeren Ikone wurde
- Die Legende des heiligen Sebastian beginnt bei seinem Outing als Christ in römischer Zeit um 300 nach Christus.
- Wie aus dem Märtyrer eine queere Ikone wurde, haben die Theologen Stephanie Höllinger und Stephan Goertz erforscht.
- Aus ihrer Sicht hilft die queere Rezeption, die katholische Kirche an vergessene Traditionen zu erinnern.
Sebastian war Offizier der Leibwache des römischen Kaisers Diokletian. Dort soll er – der Legende nach – notleidenden Christen geholfen und sich selbst als Christ geoutet haben.
Folgenreich: Outing als Christ im 3. Jahrhundert
Die katholische Theologin Stephanie Höllinger erklärt, welche drastischen Folgen das für ihn hatte: "Nachdem Kaiser Diokletian ihn konfrontiert und Sebastian seinen Glauben bekennt, fordert er seine Schützen auf, Sebastian mit Pfeilen zu beschießen." Der Legende nach sah er aus wie ein Igel.

In seinem Körper steckten so viele Pfeile, dass er aussah wie ein Igel.
Sebastians Geschichte: Märtyrer und Pestheiliger
Gemeinsam mit dem Mainzer Moraltheologen Stephan Goertz hat Höllinger ein Buch geschrieben über den Märtyrer, der zunächst überlebt und gesund gepflegt wird. Als er abermals vor dem Kaiser für seinen Glauben eintritt, wird er im Circus in Rom zu Tode geknüppelt. Begraben wird er von Glaubensgeschwistern in der "Sebastianskatakombe".

Höllinger beschreibt, wie Sebastian Jahrhunderte später "wiederentdeckt" wird: "Seine wirkliche Karriere beginnt dann 1.000 Jahre nach seinem Tod. 1347/48, das ist die Zeit, wo Sebastian als Pestheiliger entdeckt wird."
Dafür spielen die bildlichen Darstellungen des heiligen Sebastian, in denen immer wieder Pfeile auftauchen, die in seinem Körper stecken, eine "große Rolle", so Höllinger, "weil man sich ja noch kaum erklären konnte, wie sich Menschen mit einer Krankheit infizieren". Da sei der Pfeil als "ein wichtiges Symbol" interpretiert worden, "weil sich die Menschen vorstellten, dass eine Krankheit einen Menschen trifft wie ein unsichtbarer Pfeil".
Sebastians wirkliche Karriere begann 1.000 Jahre nach seinem Tod und als Pestheiliger.
Kunstfigur: Durch erotisch aufgeladene Bilder zur queeren Ikone
Im 19. Jahrhundert bekommt Sebastian dann ganz neue Verehrer, wie Stephan Goertz weiter ausführt: Sebastian sei von den Künstlern der Zeit sehr gern als junger, schöner, attraktiver, erotischer Mann dargestellt worden. Er bot ihnen die Möglichkeit, "einen nackten Mann zu zeichnen und sich an antiken Vorbildern zu orientieren".

Die erotisch aufgeladenen Bilder des fast nackten, gefesselten und von Pfeilen durchbohrten Sebastian finden ihr Publikum. Sebastian wird zur Identifikationsfigur für schwule Katholiken, erläutert Stephanie Höllinger: "Es war tatsächlich so eine Art Chiffre für die queere Identität. Es wird erzählt, dass Junggesellen, die in ihrer Wohnung ein Bildchen des Sebastian aufgestellt haben, Eingeweihten signalisieren konnten, dass sie Männer begehren."
Aids als "Schwulenseuche": Wiederentdeckung in den 80er-Jahren
In den 1980er-Jahren gewinnen die Bilder von Sebastian dann abermals an Bedeutung in der queeren Szene: Es ist die Zeit, in der Aids aufkommt, die damals als "Schwulenseuche" diffamierte Krankheit, die zu massiver sozialer Ausgrenzung führt. Laut Goertz führt diese Entwicklung zur Neuentdeckung seiner Geschichte, – wegen der Kombination "aus Queerness, Abweichung, Betroffen-Sein von einer Krankheit".
Im Lauf von rund 17 Jahrhunderten hat Sebastian so manche Wendung in seiner Heiligen-Karriere durchlaufen. Vor allem als queere Ikone ist er dem Einflussbereich der katholischen Kirche längst entglitten, wie Goertz betont: "Er hat ein Eigenleben, er ist nicht zu kontrollieren." Dass es in der christlichen Tradition derartig unkontrollierbare Bilder, Symbole und Gestalten gebe, die ein Eigenleben entwickelten, sei etwas Schönes. Denn aus Goertz' Sicht bieten sie die Möglichkeit, sich mit ihnen zu identifizieren "oder auch Protest auszudrücken".
Der heilige Sebastian ist dem Einflussbereich der katholischen Kirche entglitten.
Queere Rezeption verweist auf verlorene Traditionen
Eine Identifikation, die – so der Moraltheologe Stephan Goertz – religiösen Menschen helfen könne und eigentlich auch gut zum Christentum passe, "weil das Christentum selber in die Weltgeschichte gekommen ist als eine Religion, die nicht einfach konform war, die auch mit Blick auf Männlichkeit neue Akzente gesetzt hat in der römischen Welt mit der maskulinen Männlichkeit".
Goertz findet, wir könnten "dieser queeren Rezeption dankbar sein, dass sie uns auf verloren gegangene Traditionen unserer eigenen Geschichte hinweist". Die Karriere des heiligen Sebastian – sie dürfte noch nicht zu Ende sein.
Buchtipp
Stephanie Höllinger, Stephan Goertz: "Sebastian: Märtyrer – Pestheiliger – queere Ikone"
Herder Verlag
240 Seiten
Quelle: MDR KULTUR (Michael Hollenbach), Redaktionelle Bearbeitung: ks, hki
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