Leben mit Bürgergeld: Wie Simone Hock mit 160 Euro auskommt
- Umfrage: Bürgergeld reicht für viele nicht, um ausreichend zu Essen
- So kann Essen mit wenig Geld gelingen: Vorrat, Angebote, Disziplin
- Ausbildung, ABM und 1-Euro-Job: Ein Arbeitsleben mit mehreren Anläufen
- Millionen betroffen: Wer Bürgergeld bekommt
- Experte: Stärkere Forderungen nach Arbeitsaufnahme verdrängen anderes
- Engagement trotz Bürgergeld: "Ich will etwas zurückgeben"
Simone Hock läuft gezielt auf die roten Preisschilder in der Edeka-Filiale in der Zwickauer Innenstadt zu. Im Hinterkopf hat die 51-Jährige die Angebote aus den Prospekten und der App. Die Galia-Melone gibt es für einen Euro. "Die letzte", freut sie sich und legt sie in den Korb.
Dann geht sie aus der Obstabteilung und weiter bis in die Mitte des langen Kühlregals. Ganz unten stehen drei hellblaue Kisten. Es sind die Waren, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abläuft. "Wenn man vernünftig haushaltet, kommt man damit über die Runden und kann sich trotzdem gesund ernähren", sagt die Bürgergeld-Empfängerin. Das sehen viele anders.
Umfrage: Bürgergeld reicht für viele nicht, um ausreichend zu Essen
Ein Großteil der Bezieher hat offenbar deutlich stärker mit dem wenigen Geld zu kämpfen. Zwei Jahre nach Einführung hat der Verein "Sanktionsfrei" unter über 1.000 Betroffenen im Alter von 18 bis 67 eine Umfrage durchgeführt und deren Ergebnisse sind gerade erst veröffentlicht worden. Über 70 Prozent sagen: Das Geld reicht nicht, um ein würdevolles Leben zu führen.
Selbst Grundbedürfnisse könnten demnach nicht ausreichend erfüllt werden. Jeder zweite Befragte gibt an, dass in ihrem Haushalt nicht alle satt werden. Ein Drittel lässt Mahlzeiten weg, um andere Bedürfnisse erfüllen zu können; insbesondere Eltern verzichten auf Essen zu Gunsten ihrer Kinder.
Armut prägt: Simone Hock kennt Hunger aus ihrer Kindheit
Simone Hock hat keine Kinder, aber Hunger kennt sie noch aus ihrer eigenen Kindheit, sagt die gebürtige Zwickauerin. Ihr Vater sei Alkoholiker gewesen, sie habe früh lernen müssen, selbst für sich und auch andere zu sorgen.
Einen großen Teil ihrer Kindheit ist sie bei den Eltern ihrer Mutter aufgewachsen. Die braunen Augen von Simone Hock beginnen zu leuchten, wenn sie von Oma und Opa erzählt. "Die sind 1904 und 1905 geboren, haben zwei Weltkriege und vier Systeme miterlebt." Von ihrer Oma habe sie etwa das Kochen mit wenigen Zutaten, stricken oder häkeln gelernt. Das helfe ihr bis heute auch mit wenig Geld auskommen zu können.
160 Euro im Monat – so knapp ist das Leben mit Bürgergeld
924 Euro Bürgergeld bekommt sie pro Monat. Davon wird auch die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Zwickauer Innenstadt bezahlt, in der sie seit vielen Jahren lebt. Es bleiben 563 Euro, die der Regelsatz für das Leben vorsieht. Davon gehen diverse Fixkosten wie Strom, Internet, Hausrat sowie das Deutschlandticket und eine monatliche Rücklage ab. 75 Euro legt Simone Hock beiseite, falls mal die Waschmaschine oder ähnliches kaputtgeht. "Es bleiben 160 Euro zum Essen und Leben."
Das Geld kam am Montagmorgen, direkt danach teilt sie es auf: Für jede volle Woche im Juli sind 30 Euro in einen grauen Briefumschlag gewandert – für die letzten vier Tage zehn. "Das muss reichen. Meist gibt es dann ja schon wieder Geld", sagt Simone Hock über das Ende dieses Monats. Immer mal wieder werde es auch bei ihr knapp.
So kann Essen mit wenig Geld gelingen: Vorrat, Angebote, Disziplin
Es wäre aber immer etwas zu essen im Frostfach – Hühnerfrikasse, Kohlrouladen oder auch ein Stück Ente von Weihnachten sind dort neben Möhren, Brot und Suppenfonds gelagert. Im Trockenfach sind Nudeln, Gewürzgurken oder selbstgemachte Brombeermarmelade. Simone Hock sagt, dass ihr gutes und leckeres Essen wichtig ist.
Nach dem Einkauf beim Edeka geht es direkt zum Netto um die Ecke. Dort ist Schweine-Rücken im Angebot für 5,49 Euro das Kilo. Sie nimmt ein 1,6-Kilo-Stück mit. "Das schneide ich mir in 13 Scheiben für Minutensteaks und der Rest wird am Stück eingefroren für Schweinebraten." Es sei das Fleisch für mindestens 13 Mahlzeiten – ein Großteil wird gefrostet. Nur so funktioniere es: Kaufen, wenn es wirklich billig ist.
Das Bürgergeld hat mir diese Luft zum Atmen verschafft.
Von den 160 Euro bleiben 30 Euro. "Das ist mein Taschengeld", sagt Simone Hock. Für ein Eis am Hauptmarkt, einen Theaterbesuch oder kleine Geschenke für Freunde. Es seien diese kleinen Dinge, die ihr Freude bereiten. Wie die Meisen, für die sie selbstgemachtes Futter ans Wohnzimmer-Fenster stellt. Und: "Das Bürgergeld hat mir diese Luft zum Atmen verschafft."
Ausbildung, ABM und 1-Euro-Job: Ein Arbeitsleben mit mehreren Anläufen
Simone Hock war in ihrem Leben immer wieder auf Sozialleistungen angewiesen. 1988 starb ihr Opa, den sie mitgepflegt hatte, ein Jahr später die Oma. Eine erste Ausbildung als staatlich anerkannte Erzieherin ab 1991 konnte sie nicht zu Ende bringen. 1999 beendete sie die zweite als Bürokauffrau, es folgten Weiterbildungen und ABM. "In dieser Zeit ist auch ganz viel Selbstvertrauen verloren gegangen", sagt Simone Hock.
Ich habe mich in die Buchhaltung eingearbeitet und teils zwölf Stunden gearbeitet, obwohl es nur 1,50 Euro pro Stunde gab.
Sie suchte sich einen Nebenjob im Regalservice und bekommt schließlich einen 1-Euro-Job in einem Schuldnerberatungsverein. "Dort wurde mir was zugetraut, ich habe mich in die Buchhaltung eingearbeitet und teils zwölf Stunden gearbeitet, obwohl es nur 1,50 Euro pro Stunde gab", berichtet Simone Hock. "Hier bekam ich wieder Selbstvertrauen."
Im Jahr 2005 wurden mit der Hartz-IV-Reform die Regeln, wer nach einem Jobverlust noch erwerbsfähig ist, weiter ausgelegt als zuvor. Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ist damals auch der Druck, eine Arbeitsstelle aufzunehmen, deutlich erhöht worden. Gleichzeitig verfügten die Jobcenter auch über zahlreiche Fördermaßnahmen. Es wurden bereits wenige Monate nach Start der Reform zahlreiche Arbeitslose in Jobs vermittelt.
Simone Hock arbeitete damals bereits und wollte sich 2006 als Regalservice selbstständig machen. "Es war nicht leicht und es kam auf den Mitarbeiter im Jobcenter an, ob dieser dich auf mögliche Förderungen hingewiesen hat", sagt Simone Hock.
Post-Covid, Fatigue, Antrag auf Rente: Wenn Arbeit nicht mehr geht
Sie musste sich den Weg zurück ins Arbeitsleben erkämpfen. Simone Hock habe im Auftrag von Ferrero und anderen Firmen im Nebengewerbe die Regale in den Supermärkten befüllt – bis 2014. Parallel habe sie 2009 angefangen für den damaligen Landtagsabgeordneten der Linkspartei in Sachsen, Sebastian Scheel, im Wahlkreisbüro zu arbeiten. Später führte sie dieses allein. Es habe Spaß gemacht, aber es seien sehr lange Arbeitstage gewesen – bis zu 16 Stunden am Tag.
2017 wechselte Scheel in die Landespolitik nach Berlin. 2019 hörte Simone Hock auf, bei den Linken zu arbeiten. "Verdacht auf Fatigue-Syndrom", sagt sie. Ausgelaugt! Es sei erstmal in eine Reha gegangen. Seitdem versucht sie wieder auf die Beine zu kommen.
"2023 habe ich noch eine Qualifizierung zur Betreuungskraft gemacht", sagt Simone Hock. Anschließend arbeitete sie für 15 Stunde pro Woche als Betreuungskraft im Pflegeheim. Dann habe sie sich mit Corona infiziert. "Ein Befund hat Post Covid diagnostiziert sowie Fatigue-Syndrom", sagt Simone Hock. Die Erwerbsminderungsrente habe sie beantragt. Das Geld bekommt sie noch vom Jobcenter, steht aber dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung – das Verfahren läuft.
Millionen betroffen: Wer Bürgergeld bekommt
5,5 Millionen Bürgergeld-Empfänger gibt es laut den aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (Stand Ende Mai). Davon sind fast 1,5 Millionen nicht erwerbsfähig – etwa Kinder oder Menschen, die krankheitsbedingt keine drei Stunden am Tag arbeiten können. Knapp vier Millionen gelten als erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Ostdeutschland hat dabei eine etwas höhere Arbeitslosenquote als Westdeutschland.
Fest steht: Von den vier Millionen Leistungsberechtigten arbeiten über 830.000 bereits, beziehen aber Bürgergeld, weil sie zu wenig verdienen. Etwa weitere 1,1 Millionen stehen dem Arbeitsmarkt derzeit nicht zur Verfügung, weil sie Angehörige pflegen, Kinder betreuen – also soziale Arbeit leisten –, oder einer Ausbildung bzw. Maßnahme nachgehen oder krank sind.
Nun will die neue Bundesregierung bei Bürgergeld-Beziehern Geld sparen und diese durch schärfere Sanktionen in Arbeit bringen. So steht es im Koalitionsvertrag. Die Union hat gerade erst behauptet, dass es sogar ein Einsparpotenzial von 4,5 Milliarden binnen zwei Jahren geben könnte.
Experte: Stärkere Forderungen nach Arbeitsaufnahme verdrängen anderes
"Der ‚Geist des Bürgergelds‘ wird in der aktuellen Debatte verdrängt", sagt der Soziologe Philipp Kahnert von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. "Beim Bürgergeld war viel von Vertrauen, Kooperation, Qualifikation und gesellschaftlicher Teilhabe die Rede." Nun gehe es wieder um stärkere Forderungen nach Arbeitsaufnahme.
Kahnert forscht zum Wandel zwischen Hartz IV und Bürgergeld und erklärt: "Die Ergebnisse aus den letzten 20 Jahren Arbeitsmarkt- und Sozialpolitikforschung lassen begründete Zweifel zu, ob der Fokus auf die möglichst schnelle Vermittlung in ‚irgendeine Arbeit und zu jedem Preis‘ eine nachhaltige und sozial wie ökonomisch sinnvolle Strategie für Arbeitssuchende sowie die Anforderungen des Arbeitsmarktes ist."
Arbeitslosigkeit wird nicht genossen, sondern wirkt sich negativ auf das eigene Empfinden aus.
Menschen gehen sehr gerne arbeiten. "Das geht aus der Sozialforschung zur Arbeit hervor", sagt Kahnert. "Arbeitslosigkeit wird nicht genossen, sondern wirkt sich negativ auf das eigene Empfinden aus. Der immer wieder aufkommende Vorwurf der ‚faulen Arbeitslosen, welche die Sicherungssysteme ausnutzen‘, ist wissenschaftlich nicht haltbar."
Engagement trotz Bürgergeld: "Ich will etwas zurückgeben"
Simone Hock sagt, dass sie erst lernen musste, Hilfe anzufordern und anzunehmen. Als das Gespräch auf Hartz IV kommt, atmet sie tief ein: "Damals konnte ich keine Rücklagen bilden." Zum Bürgergeld erklärt sie: "Dafür, dass mich der Staat durchfüttert, versuche ich etwas zurückzugegeben."
Dafür, dass mich der Staat durchfüttert, versuche ich etwas zurückzugegeben.
Zu Weihnachten verschenkt sie selbstgehäkelte Engel und Sterne an die Kirchgemeinde – über 200 waren es im letzten Jahr. Sie hat Fotos davon ausgedruckt: Filigrane Fäden, sorgfältig gearbeitet. Im Juli fängt sie ebenfalls bereits an, kleine Weihnachtsgeschenke für Obdachlose in Zwickau vorzubereiten – eingekauft wird, wenn das Geld reicht und die Angebote da sind.
Simone Hock engagiert sich ehrenamtlich in ihrer Kirchgemeinde "Heilige Familie Zwickau". Jeden Donnerstag bereitet sie die Messe vor und ist auch Lektorin. Sie sagt, sie genießt die stille Zeit in der Kirche. Mehr gehe aktuell nicht. Doch dieser Dienst und die Gemeinde würden ihr Kraft geben.
Ob die härteren Sanktionen sie treffen würden, wenn diese umgesetzt werden sollten, weiß Simone Hock noch nicht. Sie sagt, selbst bei einer Verrentung, dürfte sie auf Sozialleistungen angewiesen bleiben. Die Frage sei nur, ob als volle Erwerbsminderungsrentnerin oder weiter über das Jobcenter. "Ich mache mir Gedanken, was da noch auf mich zukommen kann."
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