Das wundersame Comeback des Kreisliga-Schiris
Maximilian Scheibel hat Erfreuliches zu verkünden. Der Junior-Schiedsrichter-Lehrgang in seinem Landesverband habe gerade eine magische Marke übertroffen. Seit Einführung im Jahr 2019 gab es demnach insgesamt mehr als 750 Anmeldungen. Allein am aktuellen Kurs, der noch bis Ende August läuft, nehmen 73 Anwärter teil. Sie lernen, wie breit ein Tor ist, wie sie Abseits anzeigen müssen, was zu tun ist, wenn ein Spieler einen anderen schlägt.
Bis auf die Prüfung läuft alles online. „Für uns ist das Online-Format natürlich einfacher. Denn so können Anwärter aus ganz Sachsen-Anhalt zusammenkommen. Von Stendal bis Weißenfels, das sind schon mal ein paar hundert Kilometer. Diese Hürde der Distanz können wir durch Online-Termine abbauen“, sagt der Verantwortliche für Schiedsrichter- und Passwesen im Landesverband Sachsen-Anhalt.
Der Lehrgang zur Ausbildung des Schiedsrichternachwuchses ist ein Puzzleteil zur Trendwende in Sachsen-Anhalt. Nach schwierigen Jahren der Corona-Pandemie und einem Tiefpunkt in der Saison 2022/2023 mit nur noch 1319 Schiedsrichtern, ist der Trend wieder positiv. In der abgelaufenen Saison verzeichnete der Landesverband 1454 Schiedsrichter – ein Zuwachs im Vergleich zur Vorsaison von 2,47 Prozent. Damit liegt der ostdeutsche Verband zwar im bundesweiten Vergleich der 21 Landesverbände prozentual nur im Mittelfeld, reiht sich aber dennoch in die jüngste Erfolgsmeldung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) ein.
Erstmals seit beinahe zehn Jahren gibt es wieder mehr als 60.000 Schiris im Land, meldete der Verband Anfang Juli. Die exakt 61.027 Aktiven bedeuten ein Plus von 4,29 Prozent. Es sind Werte, die bis vor wenigen Jahren noch undenkbar schienen.
Der Fußball erlebte in den vergangenen Jahrzehnten einen Massenschwund an Schiedsrichtern. Allein zwischen 2006 und 2021 lag der Rückgang bei 45 Prozent. Am Ende dieses Zeitraums standen nur noch knapp 45.000 Schiedsrichter zu Buche, auch weil Gewalt und Anfeindungen gegen Unparteiische die Schlagzeilen zunehmend dominierten und viele zum Aufhören bewegten. Die Corona-Pandemie mit dem brachliegenden Spielbetrieb trug ihr Übriges bei.
Die Aufmerksamkeit der Kampagnen des DFB hilft enorm
Jetzt ist der DFB zwar noch weit von den Zeiten der 2000er-Jahre entfernt, als über 80.000 Menschen an der Pfeife unterwegs waren. Immer noch sind längst nicht alle Spiele mit neutralen Schiedsrichtern besetzt. Und doch erlebt der Typus Kreisliga-Schiri seine bemerkenswerte Auferstehung.
„Der Hauptfaktor, warum es jetzt besser läuft, ist die Aufmerksamkeit. Der DFB hat viele Kampagnen gefahren, die sehr gut waren und uns auch aktuell noch helfen“, sagt Scheibel. Egal, mit wem man im Schiedsrichter-Kosmos spricht. Sie alle nennen zuallererst das „Jahr der Schiris“ 2023 als Turnaround.
„Den einen Schlüssel für den Zuwachs gibt es nicht. Aber das Jahr der Schiris war sicherlich ein Jahr des Umbruchs – mit einem Paket an Maßnahmen, die wirklich neu waren und gut funktioniert haben“, sagt Ronny Zimmermann, als 1. Vizepräsident im DFB für das Schiedsrichterwesen verantwortlich, im Gespräch mit WELT AM SONNTAG.
Zimmermann nennt exemplarisch die ARD-Dokumentation „Unparteiisch“, in der Bundesliga-Schiedsrichterinnen und -Schiedsrichter transparent bei ihrer Arbeit begleitet wurden, die Aktion mit den damaligen Bundesliga-Profis Nils Petersen und Anton Stach, die selbst öffentlichkeitswirksam ein Spiel in der Bezirksliga Rheinhessen leiteten sowie „Profi wird Pate“, ein Konzept, bei dem Profi-Schiris Neulinge an der Basis begleiten.
„Es haben mir Leute, die ihr Leben lang dem Fußball verbunden sind, gesagt, dass sie sich den Job so nicht vorgestellt haben. Da ist auch mir erst mal klar geworden, wie wenig sich die Menschen davor mit dem Thema Schiedsrichterei beschäftigt haben“, sagt Zimmermann.
Es scheint, als habe es der DFB geschafft, den verpönten Job des Schiedsrichters in der Wahrnehmung der Gesellschaft mit positiven Werten zu besetzen – und jetzt in der Breite mit dem Zahlenzuwachs die Früchte zu ernten. Gerade unter den Jugendlichen wird das in der DFB-Statistik offensichtlich. In der Alterskategorie bis 18 Jahren fällt der Zuwachs an Schiedsrichtern mit einem Plus von rund 2700 am deutlichsten aus.
Zimmermann erklärt das mit einem Wandel in der jungen Generation: „Es zeigt sich auch an anderen Stellen, dass es wieder mehr junge Leute gibt, die im Verein mitarbeiten wollen. Verantwortung im Ehrenamt zu übernehmen, scheint wieder angesagter zu werden. Das ist gut für die Gesellschaft. Wichtig ist dabei, in allen Bereichen noch stärker Frauen und Mädchen zu aktivieren und anzusprechen.“
Tatsächlich weist die DFB-Statistik für Zimmermanns Aussage weitere Indizien auf. So ist auch die Trainerqualifikation des DFB-Junior-Coaches, die sich an Schüler ab 15 Jahren richtet, 11,44 Prozent häufiger vergeben worden (2416-mal) als in der Vorsaison (2168-mal).
Bei der Ursachenforschung, warum sich die Menschen und speziell die Jugendlichen für die Schiedsrichterei entscheiden, bleibt aber ein schier unauflösbares Paradoxon bestehen. Denn es ist längst nicht alles eitel Sonnenschein. Die grundlegenden Probleme – Mangel an Respekt, Anfeindungen oder gar Gewalt gegen Schiedsrichter – haben sich bei all den positiven Nachrichten nicht wesentlich abgemildert.
„Wenn man sich den Langzeittrend anschaut, kann man feststellen, dass Gewalt im Fußball und vor allem gegen Schiris ein dauerhaftes Problem ist. Wir haben immer einen Bodensatz an Vorfällen. Und da müssen wir schauen, wie wir diesen noch weiter bekämpfen“, sagt Thaya Vester. Sie ist akademische Mitarbeiterin an der Universität Tübingen und forscht seit Jahren zu Gewalt, Diskriminierung und Sexismus gegen Schiedsrichter.
Rückgang bei den Spielen mit Gewaltvorfällen
Die bislang letzten Zahlen aus dem jährlichen Lagebild Amateurfußball des DFB stützen ihre These. Zwar ist die Zahl der Spielabbrüche aufgrund einer Eskalation auf dem Platz in der Saison 2023/2024 um 5,5 Prozent auf 909 gesunken, liegt aber sowohl in absoluten Zahlen als auch anteilig an allen durchgeführten Spielen (0,071 Prozent) deutlich höher als vor der Corona-Pandemie (Saison 2018/2019: 708 Abbrüche, 0,057 Prozent).
Positiv hervorzuheben ist dagegen der Rückgang bei den Spielen mit Gewalt- und/oder Diskriminierungsvorfällen. 5832 Spiele mit Vorfällen bedeuten einen Anteil von 0,45 Prozent. Das ist der niedrigste Anteil seit Start des Lagebildes Mitte der 2010er-Jahre.
Laut Vester könnte das Problem aber in Wahrheit deutlich größer sein. Denn längst nicht alle Vorfälle würden auch als solche im Spielbericht erfasst. Das liege zum einen daran, dass nur oberflächlich abgefragt werde, ob es in einem Spiel einen Vorfall gab, nicht aber wie viele. Zum anderen würden sich die Schiedsrichter teilweise in ihrer Bewertung schwertun. „Ist etwas noch rohes Spiel oder schon eine Tätlichkeit? Schiris sind dann eher zurückhaltender und tragen es nicht als Gewaltvorfall ein“, sagt Vester, die beim DFB Mitglied der Projektgruppe „Gegen Gewalt gegen Schiedsrichter*innen“ ist.
Um Licht ins Dunkelfeld zu bringen, hat sie daher eine Befragung unter den Schiedsrichtern im Fußballverband Württemberg durchgeführt. Eines der Ergebnisse in einem Aufsatz, der WELT AM SONNTAG vorab vorliegt: 19,9 Prozent der in der Saison 2022/2023 befragten Schiedsrichter wurden schon einmal Opfer einer tätlichen Attacke.
Die Zahl ist im Langzeitvergleich mit den Saisons 2011/2012 (17,3 Prozent) und 2016/2017 (19,8 Prozent), wo die Befragungen schon einmal durchgeführt wurden, leicht gestiegen. „Festzuhalten ist, dass das Thema Gewalt gegenüber Unparteiischen im Amateurfußball weiterhin eine große Relevanz hat“, heißt es als Fazit in dem Aufsatz.
„Die Wahrnehmung der Schiris hat sich verbessert“
Auch DFB-Vize Zimmermann muss zugeben, dass es noch nicht gelungen sei „den generellen Umgang miteinander und mit den Schiris grundlegend zu ändern. Das wäre auch utopisch gewesen, die Gesellschaft innerhalb eines Jahres zum Umdenken zu bewegen“. Es habe aber Schritte in die richtige Richtung gegeben. „Die Wahrnehmung der Schiris hat sich verbessert“, so Zimmermann.
Die Frage, warum sich der Nachwuchs für das Hobby Schiedsrichterei entscheidet, in bestem Wissen, dass zumindest die theoretische Möglichkeit besteht, beleidigt, bedroht oder sogar geschlagen werden, ist am Ende nicht so einfach zu klären. Vester beantwortet sie so: „Die Menschen werden trotzdem Schiedsrichter, weil Gewalt dann doch ein vergleichsweise kleines Problem ist. Der allergrößte Teil der Fußballspiele läuft ohne Gewalt – nicht immer friedlich, aber ohne Gewaltvorkommnisse. Den allermeisten Schiris passiert körperlich nichts.“
Das bestätigt auch Maximilian Scheibel aus den Erfahrungen in Sachsen-Anhalt. Laut seiner Aussage würden am Ende die Vorteile der Schiedsrichterei überwiegen. „Die Persönlichkeitsentwicklung ist etwas, das nicht alle Hobbys mit sich bringen“, sagt er. Das will er auch in seinem Junior-Lehrgang vermittelt wissen.
Luca Wiecek ist Sportredakteur bei WELT. Er berichtet über Fußball und zahlreiche weitere Themen aus der Welt des Sports. Und ist selbst seit über zehn Jahren Schiedsrichter im DFB.
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