„Praktisch fahren da 24 Rasierklingen durchs Wassser“
Sie fliegen über das Wasser, heben sich auf Tragflächen, sogenannten „Foils“, aus den Wellen heraus und erreichen Geschwindigkeiten von 100 km/h und mehr. Die 3,4 Millionen Euro teuren F50-Katamarane sind Hightech-Maschinen und die SailGP so etwas wie die Formel 1 des Segelns. Zum ersten Mal macht die internationale Rennserie an diesem Wochenende in Deutschland Halt. Das Starterfeld vor Sassnitz auf Rügen ist allerdings geschrumpft. Martine Graels Team Mubadala Brazil hatte am Freitag einen Mastbruch-Schock zu verdauen und kann nicht an diesem Samstag (15.30 Uhr) und Sonntag (15.30 Uhr) mitmischen. Damit werden elf statt zwölf Katamarane der schnellsten Weltliga des Segelsports starten. Erik Kosegarten-Heil, 36, steuert das deutsche Boot.
WELT AM SONNTAG: Was macht die SailGP so besonders?
Erik Kosegarten-Heil: Wir segeln auf den schnellsten Booten der Welt, das allein macht die Serie besonders. Insgesamt kämpfen zwölf Mannschaften um den Sieg. Dann sind unsere Rennkurse sehr publikumsnah, weil sie dicht an Land stattfinden. Zuschauer können das Rennen live von der Tribüne verfolgen. Der Kurs ist von sogenannten „Boundaries“ begrenzt, also digitalen und physischen Markierungen – in Sassnitz zum Beispiel ist die Tribüne eine physische Begrenzung. Da ist man ganz nah an der Action dran. SailGP ist eine junge, schnell wachsende Serie, wie es sie im Segelsport bisher nicht gab. Der America’s Cup zum Beispiel ist nur alle drei Jahre und extrem teuer. SailGP dagegen arbeitet mit Budgetlimits und zentral organisierter Technik. Wir fahren alle das gleiche Bootmodell, den Foiling-Katamaran F50. Die Boote gehören der Liga, nicht den Teams. Es gibt spezialisierte Technikcrews für Elektronik, Hydraulik, Foils, Wings etc., die alle Boote vorbereiten. So wird sichergestellt, dass die Bedingungen für alle gleich sind.
WAMS: Wie läuft so ein Rennwochenende ab?
Kosegarten-Heil: Freitags segeln wir vier Trainingsrennen mit allen Teams. Samstag und Sonntag sind die Wertungsrennen. Am Samstag gibt es vier Rennen, jeweils rund 15 Minuten lang. Am Sonntag folgen drei Rennen plus ein Finale. Die besten drei Teams kommen ins Finale, und wer das gewinnt, ist Sieger des Wochenendes. Es geht über einen Kurs mit Wendemarken. In der Regel geht es zweimal gegen und zweimal mit dem Wind bis zum Ziel.
WAMS: Wie schnell wird so ein F50-Katamaran?
Kosegarten-Heil: Der aktuelle Rekord liegt bei rund 103 km/h. Da braucht man aber optimale Bedingungen: glattes Wasser und viel Wind. Unser Team hat den eigenen Rekord in San Francisco aufgestellt. Dort gibt es eine Stelle mit Flachwasser, da knallen die Böen so richtig rein – da macht man die Speed-Rekorde.
WAMS: Wie fühlt es sich an, mit 100 km/h übers Wasser zu fliegen?
Kosegarten-Heil: Es ist ein irres Gefühl. Wenn wir Top-Speed erreichen, fühlt sich das Boot fast „eingeloggt“ an. Alles läuft stabil, die Bewegungen werden minimal. Unser Flight Controller, der das Foil steuert, muss fast nichts mehr anpassen, es ist wie auf einer Schiene. Auch ich und der Wing Trimmer müssen kaum was ändern. Aber: Ab etwa 90 km/h kommt es zu Kavitation an den Foils. Das heißt, durch den starken Unterdruck fängt das Wasser an zu „kochen“ – es entstehen Blasen, die das Ruder vibrieren lassen. Dann wird es auch mal schwierig, die Kontrolle zu behalten.
WAMS: 100 km/h und kochendes Wasser, wie gehen Sie mit dem Risiko um? Gibt es Sicherheitsvorkehrungen?
Kosegarten-Heil: Ja, viele. Jedes Team hat ein Coachboot, dazu gibt es einen Chief Marshal. Alle Hilfsboote sind auf dem Kurs verteilt, um im Notfall schnell eingreifen zu können. Auf jedem dritten Motorboot ist ein Taucher an Bord, falls jemand unter dem Boot gefangen ist. Wir tragen Neoprenanzüge, Prallschutzwesten, Prallschutzkleidung, eine Sauerstoffflasche für ein paar Atemzüge unter Wasser und zwei Messer zum Freischneiden. Zudem haben wir eine Sicherheitsleine, die uns mithilfe von Klettergurten am Boot hält. Man kommt zwar auf dem Boot von der einen Seite auf die andere, aber nur einen Meter vor und zurück. Wenn man aber schon bei 60 km/h in diese Leine fällt, ist das eine sehr unangenehme Sache. Und im Wasser wird es gefährlich: Mit den Foils der zwölf Boote fahren da praktisch 24 Rasierklingen durchs Wasser.
WAMS: Sie haben vor Kurzem geheiratet. Macht sich ihre Frau Sorgen?
Kosegarten-Heil: Manchmal ein wenig. Aber bisher gibt es zum Glück kaum Negativbeispiele. Die Liga und die Teams sind sehr professionell organisiert. Wir segeln hier mit den besten Seglern der Welt, das ist keine Karnevalstruppe.
WAMS: Können sich die Zuschauer in Sassnitz auch auf Geschwindigkeitsrekorde freuen?
Kosegarten-Heil: Ich hoffe … Hauptsache, wir haben keinen Ostwind.
WAMS: Wieso?
Kosegarten-Heil: Ostwind heißt Welle. Unsere Boote wurden für den America’s Cup, den Bermuda Cup gebaut, wo es kaum Wellen gibt. Die Foils brauchen ruhiges Wasser, damit das Boot stabil fliegen kann. Sobald Luft ins Foil kommt, verliert es Auftrieb, und das Boot kracht ins Wasser. Bei Flachwasser kann man zehn Zentimeter unter der Oberfläche fliegen. Bei einem Meter hohen Wellen muss man tiefer fliegen, was das Risiko erhöht und das Boot verlangsamt. Zum Glück sieht es aktuell nach Südwestwind aus – das bedeutet ablandigen Wind und ruhiges Wasser. Ich glaube, uns erwartet viel Action. Dazu kommen mehr als 20.000 Zuschauer über das Wochenende verteilt, viele Segelbegeisterte und Touristen. Das Interesse ist riesig, hier ist Highlife.
WAMS: Es ist ja auch ein besonderer Moment: Die SailGP gastiert zum ersten Mal in Deutschland.
Kosegarten-Heil: Absolut. Und es ist nicht nur das erste Event in Deutschland, sondern auch das erste Mal, dass wir ein professionelles Segelteam im eigenen Land haben. Im olympischen Bereich wird viel gefördert, aber ansonsten gab es kaum Perspektive für ein Profiteam im eigenen Land. Jetzt gibt es Boris Herrmann mit seinem Offshore-Projekt und uns. Das sind zwei große Projekte, die für junge Segler eine Perspektive darstellen.
WAMS: Sie haben schon einige Positionen an Bord erwähnt. Können Sie kurz erklären, wer was an Bord macht?
Kosegarten-Heil: Klar, ich zeige es Ihnen mal. (Kosegarten-Heil läuft im Videocall mit seinem Handy rüber zum F50 Katamaran, steigt in das Boot und zeigt alles im Detail) Die Besatzung hat insgesamt sechs Mitglieder. Der Flight Controller steuert mit einem Rädchensystem die Foils, die heben das Boot aus dem Wasser. Er stellt damit die Flughöhe über dem Wasser ein. Dann gibt es zwei Grinder, die per Muskelkraft Energie erzeugen und die Segel rauf und runter kurbeln. Vieles läuft hydraulisch, aber die Schot vom großen Segel ist mechanisch. Der Wing Trimmer stellt das große Segel ein, den „Flügel“. Es ist ein starres Karbongerüst, vergleichbar mit einer Flugzeugtragfläche.
WAMS: Und Sie?
Kosegarten-Heil: Ich bin der Steuermann, ich habe ein Lenkrad mit zehn Knöpfen und zwei Pedalen. Und ganz hinten sitzt unsere Taktikerin Anna Barth. Sie ist mein „Auge“ – ab dem Mast sehe ich nichts mehr. Anna achtet auf die anderen Boote – wenn das nicht klappt, haben wir einen Crash. Sie hat den Überblick über Winddreher auf dem gesamten Kurs. Und sie übernimmt das Ruder, wenn ich auf die andere Seite rennen muss. Das ist bei insgesamt zwölf Booten im Feld der intensivste Job, weil so viel passiert.
WAMS: Würden Sie sich noch als Seemann bezeichnen oder sind Sie eher Pilot eines Hightech-Raumschiffs?
Kosegarten-Heil: (lacht) Beides. Es braucht nach wie vor echtes Segel-Know-how, vor allem was Winddreher und Taktik betrifft. Das muss man alles antizipieren, sonst ist so ein Boot nicht über den Kurs zu bringen. Aber natürlich ist das alles hier sehr datengetrieben. Wir haben Bildschirme, Vorhersage-Software – aber man braucht vor allem Gefühl, Zusammenspiel im Team und Erfahrung.
WAMS: Wie läuft die Kommunikation für das Zusammenspiel an Bord ab?
Kosegarten-Heil: Wir tragen In-Ear-Headsets mit Mikrofonen. Wir müssen das Mikrofonlevel feinjustieren, damit es sich nicht durch das Pfeifen der Foils oder Windgeräusche automatisch aktiviert. Wir haben zudem ein Ampelsystem entwickelt: In grünen Phasen darf man Zusatzinfos einbringen, in gelben dürfen nur die reden, die in dieser Situation eine Rolle haben. Und bei Rot darf nur der Steuermann reden, außer bei Crashgefahr. Es ist ein Kampf um Wörter.
WAMS: Der ehemalige Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel ist Miteigentümer Ihres Teams. Wie aktiv ist er im Teamgeschehen?
Kosegarten-Heil: Sehr aktiv, er sagt gerne, was er denkt. Er hat über 20 Jahre in der Formel 1 gearbeitet, da merkt man schon, dass das Sinn macht, was er einbringt. Er steuert viele Ideen bei, etwa bei Abläufen in der Teambase oder beim Thema Effizienz auf dem Wasser. Er hat zum Beispiel angemerkt, dass das Essensmanagement zu viel Zeit kostet und Verbesserungspotenzial bietet. Auch beim Thema Kommunikation bringt er viel Erfahrung mit: Wer spricht wann, in welchen Zonen, wie viele Stimmen im Ohr sind sinnvoll? Soll man eher nach Informationen fragen oder eher ungefragt Informationen bekommen an bestimmten Stellen? Diese Details machen einen großen Unterschied.
WAMS: Kann ein Promi-Investor wie Vettel helfen, mehr Fokus auf den Segelsport zu lenken, ihn massentauglich zu machen?
Kosegarten-Heil: Auf jeden Fall. In Neuseeland hatten wir 20.000 Zuschauer auf der Tribüne – das hatte den Charakter wie bei einem Fußballspiel. Die Menschen kamen, um Spaß zu haben, laut mitzugehen und das Spektakel zu genießen. Solche Investoren helfen, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Wichtig ist aber, dass wir langfristig erklären, was auf dem Wasser passiert. So wie Biathlon es geschafft hat, die Sportart verständlich zu machen. Dann entsteht echte Begeisterung.
WAMS: Wird dadurch dann auch mehr der Nachwuchs inspiriert?
Kosegarten-Heil: Hoffentlich. Wir haben hier auch wieder „Inclusive Sailing“ im Programm, wo ein Mensch mit Handicap mit einem erfahrenen Segler in einem Boot segelt. Früher war das Teil des olympischen Programms, jetzt bringen wir es mit Unterstützung der Heinz-Kettler-Stiftung zurück. Es ist einfach schön, wie viel Begeisterung und Spirit da mitkommt.
WAMS: Wie sind Sie als gebürtiger Berliner eigentlich zum Segeln gekommen?
Kosegarten-Heil: Ich war ursprünglich Tennisspieler, sogar Berliner Meister bei den U12-Bambinis. Gleichzeitig wurde ich Zweiter bei den Deutschen Meisterschaften im Segeln in einer Jugendbootsklasse. Irgendwann musste ich mich entscheiden. Ich hatte eine tolle Gruppe beim Segeln, das hat den Ausschlag gegeben. Wir hatten in jeder Phase, auch auf dem Weg zum olympischen Erfolg, eine starke Gruppe um uns herum, das hat enorm motiviert. Und in Berlin gibt es viele Seen mit Segelklubs.
WAMS: Der Sprung in ein Profiteam war schwierig?
Kosegarten-Heil: Ja. Im olympischen Bereich geht es – vor allem dank der Sportförderung der Bundeswehr. Aber es gab bisher keinen professionellen Segel-Rennstall in Deutschland. Jetzt machen wir diese Premiere möglich.
WAMS: Wie würde für Sie ein perfektes Wochenende in Sassnitz aussehen?
Kosegarten-Heil: Perfekt wäre natürlich, wenn wir hier unseren Saisonhöhepunkt in Sassnitz gewinnen würden, aber davon sind wir leider noch weit weg. Realistisch wäre ich zufrieden mit einem soliden Ergebnis. Wir sind aber auf jeden Fall hungrig nach einem Crash in Sydney und den daraus resultierenden 38 Strafpunkten. Wir haben uns jetzt ein halbes Jahr zurückgearbeitet, der Blick geht nach vorn. Ich bin froh, dass wir aktuell nicht Letzter sind. Und wir haben in den verschiedenen Teilbereichen Ziele gesetzt: Speed, Manöver, Kommunikation. Die wurden alle besser. Jetzt haben wir den Start wieder in den Fokus genommen. Und zum Glück durften wir in Sassnitz vier Extratage trainieren – das ist viel wert, denn wir segeln das komplexeste Boot der Welt. Wir segeln bei zwölf Rennstationen insgesamt nur 39 Tage im Jahr auf diesem Boot. Da zählt jeder Tag momentan. Wir brauchen langfristig eine Trainingsbasis mit zwei Booten, wo im Jahresverlauf viel mehr gesegelt werden kann.
WAMS: Trainieren Sie mit Ihrer Crew auch abseits des Bootes?
Kosegarten-Heil: Ja, sehr viel sogar. Visualisierung, Videoanalyse, Datenarbeit – die Liga stellt die Daten aller Teams zur Verfügung. Ich glaube, das Boot hat 162 Datenmesspunkte, so können wir sogar live auf dem Wasser sehen, welche Einstellungen andere Teams gerade nutzen. Außerdem simulieren wir Rennen mit Tablets, machen Kommunikations- und Reaktionsübungen. Wir segeln auch auf kleineren Foiling-Booten, um Teilaspekte zu trainieren. Aber das F50 ist einzigartig. Es gibt kein anderes Boot auf der Welt, das vergleichbar wäre.
WAMS: Der Rennkalender für die nächste Saison steht nicht ganz fest. Wie hoch sind die Chancen auf ein weiteres Rennen des SailGP 2026 in Deutschland?
Kosegarten-Heil: Für uns wäre es extrem wichtig. Wir sehen an der Nachfrage, wie begeistert die Segelfans hierzulande von diesem Format sind. Und für uns ist es auch wirtschaftlich extrem wichtig. Ich bin mir zu 99,9 Prozent sicher, dass wir nächstes Jahr wieder ein Event in Deutschland haben.
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