Das Erreichen der Champions League erst am letzten Spieltag der Vorsaison hat die Arbeit von Sebastian Kehl enorm erschwert. Transfers konnte der Sportdirektor von Borussia Dortmund somit erst relativ spät in Angriff nehmen. Es gibt teils Kritik aus den Fanreihen.

Frage: Herr Kehl, zu wie viel Prozent haben Sie Ihre Transferziele in diesem Sommer erreicht?

Sebastian Kehl: Wir haben sehr viele Dinge, die wir uns vorgenommen haben, erreicht. Schauen wir mal auf die Abgabeseite: Sébastien Haller, Gio Reyna, Youssoufa Moukoko und Soumaïla Coulibaly. Diese Spieler hatten keine große sportliche Perspektive mehr bei uns. Und alle Spieler konnten wir transferieren – und zwar zu, wie ich finde, sehr guten Konditionen.

Frage: Und die Zugangsseite?

Kehl: Wir sind mit den Transfers von Daniel Svensson und Yan Couto in Vorleistung getreten (wurden nach Leihe fest verpflichtet; d. Red.) und haben mit Jobe Bellingham früh einen Unterschiedsspieler verpflichtet. Da sprechen wir bereits über Ausgaben von knapp 60 Millionen Euro. Danach war klar: Wir müssen zunächst Spieler verkaufen, bevor wir weiter investieren können. Das haben wir im Juli vor allem durch den Transfer von Jamie Gittens getan.

Frage: Carney Chukwuemeka kam fest von Chelsea, Fabio Silva aus Wolverhampton. Zudem holten Sie Chelsea-Profi Aarón Anselmino für ein Jahr per Leihe.

Kehl: Richtig. Entwicklungsfähige Spieler, die uns sportlich und wirtschaftlich eine Perspektive bieten. Ich bin absolut überzeugt von unserem Kader und glaube, dass wir besser aufgestellt sind als in der vergangenen Saison.

Frage: Welcher Transfer hat die meisten Nerven gekostet?

Kehl: Es war insgesamt ein sehr nervenaufreibender Sommer. Mit sehr vielen Telefonaten und Treffen. Und jede Kaderbewegung hatte ihre Eigenheiten. Vor allem, weil wir sie im Ausland getätigt haben. Transfers in der Bundesliga sind grundsätzlich etwas einfacher. Wir haben nun mit Klubs agiert, die nicht unbedingt aufs Geld angewiesen sind. Das verändert die Verhandlungsposition extrem. Und ich muss sagen: Die Engländer sind häufig schmerzbefreit. Sie gehen mitunter bewusst in die letzte Phase des Transferfensters, weil sie wissen: Aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten können sie beruhigt auf einen möglichen Domino-Effekt hoffen. Wir mussten also Geduld haben, um handeln zu können.

Frage: Sie reisten zuletzt zweimal persönlich nach England, um die Deals abzuwickeln. Waren die Klubs zu einem früheren Zeitpunkt also nicht gesprächsbereit?

Kehl: Ich kann natürlich grundsätzlich auch im Juli zu Chelsea fliegen, mich mit den Bossen an den Tisch setzen und das Angebot über 20 Millionen Euro für Chukwuemeka unterbreiten. Dann würden die aber wahrscheinlich sagen: ‚Du kannst sofort wieder nach Hause fliegen!‘ Es braucht Zeit und eine klare Strategie, um seine Vorstellungen durchzusetzen. Und es braucht auch das klare Bekenntnis des Spielers.

Frage: Ist Chukwuemeka am Ende selbst zu den Chelsea-Bossen gegangen und hat sie gebeten, dass er für den Preis gehen darf?

Kehl: Ja. Carney kannte den BVB bereits und wollte unbedingt wieder in Schwarz-Gelb spielen.

Frage: Fabio Silva auch?

Kehl: Auch Fabio. Ein Transfer ist im Regelfall das Ergebnis wochenlanger, teilweise monatelanger Arbeit. Wir standen seit Anfang Juli mit seinem Management bereits in engem Kontakt und haben ihn von uns überzeugt. Am Ende haben wir beide Spieler für einen Preis bekommen, der überhaupt nicht in den Trend passt.

Frage: Wie meinen Sie das?

Kehl: Fabio Silva ist ein richtig guter Stürmer mit glänzender Perspektive. Und er wird in diesem Sommer nicht einmal in den Top 100 der teuersten Transfers weltweit zu finden sein! Chukwuemeka wird noch weiter hinten landen. Das zeigt, wie viel Geld im Markt ist.

Frage: Trotzdem gab es zeitweise viel Fan-Kritik in den sozialen Netzwerken an Ihrer Transferpolitik.

Kehl: Welche Kritik meinen Sie konkret?

Frage: Zum Beispiel, dass man einen Spieler wie Silva nicht benötige.

Kehl: Natürlich benötigen wir einen solchen Spieler. Was passiert denn, wenn Serhou Guirassy mal länger ausfällt? Wir haben wahrscheinlich 50 Spiele in dieser Saison – plus die Länderspiele. Da können wir doch angesichts unserer Ziele und Erwartungen nicht mit einem einzigen Stürmer antreten. Zumal Serhou auch mal entlastet werden muss, selbst wenn er fit ist.

Frage: Zweiter Kritikpunkt: Dass Anselmino ohne Kaufoption geholt wurde.

Kehl: Das war auch nicht der Plan.

Frage: Sondern?

Kehl: Wir wollten eigentlich gar keinen Innenverteidiger mehr holen. Nico Schlotterbeck und Emre Can fielen ja schon frühzeitig aus. Als sich dann aber noch Niklas Süle schwerer verletzte, mussten wir reagieren.

Frage: Ist das Budget nun komplett ausgereizt – oder gibt es stille Reserven für den Winter?

Kehl: Wir haben unsere wirtschaftlichen Möglichkeiten für diese Transferperiode ausgeschöpft.

Frage: Was haben Sie gedacht, als Sie vom Transfer von Nick Woltemade erfahren haben, der für bis zu 90 Millionen Euro Ablöse nach England zu Newcastle wechselt?

Kehl: Die Summe, wenn sie denn stimmt, passt zu den wilden Entwicklungen. Und davon hat Stuttgart nun zumindest wirtschaftlich extrem profitiert.

Frage: Hatte der BVB Woltemade vor einem Jahr nicht auf dem Zettel, als er ablösefrei von Werder zum VfB wechselte?

Kehl: Wie sagt man so schön? Hinterher hat man’s meist vorher gewusst (lacht). Die Frage könnten Sie allen Managern in Europa stellen. Nicht jede individuelle Spielerentwicklung ist vorhersehbar und nicht immer passt das Timing, selbst wenn man einen Spieler auf dem Zettel hat.

Frage: War Jadon Sancho Thema?

Kehl: Jadon ist ein fantastischer Spieler, der zweimal hier in Dortmund war und seinen Fußabdruck hinterlassen hat. Ich weiß, was Jadon leisten kann und einer Mannschaft gibt. Natürlich haben wir uns intern mit dem Thema zu einem gewissen Zeitpunkt auch beschäftigt, aber es muss wirtschaftliche Rahmenbedingungen geben, die realisierbar sind. Wir haben mit den getätigten Transfers ca. 100 Millionen Euro in neue Spieler investiert, ähnlich wie im letzten Sommer. Hinter uns steht aber kein Staat, kein Scheich, kein Milliardär. Wir müssen unser Geld selbst verdienen und können auf Dauer nur das ausgeben, was wir zuvor auch eingenommen haben.

Frage: Viele Jahre war der BVB für junge Flügelspieler bekannt, die später sehr teuer verkauft wurden. Verändert der Klub für Trainer Niko Kovac seine DNA?

Kehl: Wir haben gemeinsam entschieden, in der Formation mit Dreierkette zu bleiben, denn wir waren damit sehr erfolgreich. Und obwohl es diesen klassischen offensiven Flügel zurzeit nicht gibt, haben wir in den vergangenen fünf Bundesliga-Spielen 17 Tore erzielt. Unsere letzte Niederlage in der Liga liegt mehr als fünf Monate zurück. Wir wollten in der neuen Ausrichtung das Zentrum stärken, dort Qualität hinzukaufen. Das haben wir geschafft.

Frage: Kovac verlängerte seinen Vertrag bis 2027. Warum haben Sie nicht den Saisonstart abgewartet, um diese Entscheidung zu treffen?

Kehl: Weil wir alle mit dieser Entscheidung unser gegenseitiges Vertrauen ausdrücken konnten und unsere Klarheit in der Trainer-Personalie dokumentiert wird. Das hilft allen Beteiligten. Ansonsten wäre das Thema nach jedem Spiel wieder aufgekommen.

Frage: Zuletzt gab es Ärger um Mark Bellingham, den Vater von Jobe. Weil er Sie in den Stadionkatakomben nach dem Spiel beim FC St. Pauli zur Rede stellte. Wie stark hallt das nach?

Kehl: Die Situation ist klar besprochen: So etwas wird es nicht noch einmal geben! Mark Bellingham hat sich bei mir und dem Klub für sein Verhalten entschuldigt. Das Thema ist damit für uns erledigt. Und wichtig ist, mir zu sagen: Jobe selbst hat damit rein gar nichts zu tun und bereits am vergangenen Sonntag wieder in der Startelf ein gutes Spiel gemacht.

Frage: Haben Julian Brandt und Emre Can eine Chance, dass ihre Verträge im nächsten Jahr verlängert werden?

Kehl: Wir haben einige Spieler mit auslaufenden Verträgen, das ist gar nicht schlimm, das kann uns sogar helfen. Jeder Spieler bekommt nun die Chance, sich in den nächsten Monaten zu zeigen – selbstverständlich. Wir haben zu allen Spielern einen richtig guten Draht und werden uns sicher irgendwann an einen Tisch setzen, um über die Zukunft zu sprechen.

Frage: Ist es bei Niklas Süle anders? Er ist der absolute Top-Verdiener im Kader …

Kehl: Ganz grundsätzlich: Nur weil man Verträge verlängert, bedeutet das ja nicht, dass man sie auf dem gleichen Niveau verlängern muss. Jeder unserer Spieler hat die Chance, sich für einen neuen Vertrag zu empfehlen. Das gilt natürlich auch für Niklas Süle.

Frage: Welchen Platz muss der Kader Ihrer Meinung nach in dieser Saison erreichen?

Kehl: Wir müssen mit unseren Möglichkeiten in der Champions League spielen. Unser Anspruch ist es, dieses Ziel nicht erst wieder am letzten Spieltag zu erreichen. Wir müssen vor allem in der laufenden Hinrunde deutlich mehr Punkte holen als in der vergangenen, das war zuletzt unser großes Problem.

Frage: Das hat sicher auch Einfluss auf Ihre Transfers?

Kehl: Genau. Wenn du im März Elfter bist, fährt der Zug erst mal ohne dich los. In der vergangenen Saison hatten wir erst am letzten Spieltag die Gewissheit, mit welchen Einnahmen wir planen können. Für uns ist es deutlich einfacher, wenn wir im Februar oder März oben dabei sind, um schon frühzeitig in Transferanbahnungen einsteigen zu können. Das hilft enorm. Und ich bin sehr sicher, dass in diesem Kader die Qualität steckt, um die Weichen früher als zuletzt auf Champions-League-Kurs zu stellen.

Das Interview wurde für das Sportkompetenzcenter (WELT, „Sport Bild“, „Bild“) geführt und zuerst in „Sport Bild“ veröffentlicht.

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