Das Schattengewächs des BVB
Als die Entscheidung drängte, war sich Jobe Bellingham plötzlich nicht mehr sicher. Lars Ricken und Sebastian Kehl, die für den Sport bei Borussia Dortmund verantwortlichen Leute, die ihn gern verpflichten wollten, spürten das. „In dem Moment war es so, dass mir zugetragen wurde, dass es gut wäre, wenn ich mit Jobe sprechen würde“, sagt Hans-Joachim Watzke. Also machte sich der scheidende BVB-Geschäftsführer, der sich zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr um Abwicklungen von Transfers kümmern wollte, auf den Weg nach Sunderland.
Watzke hatte ein BVB-Trikot als Geschenk im Gepäck. Vor allem aber redete er mit dem 19-Jährigen und seinen Eltern über eine bestimmte Befürchtung: die Angst von Jobe Bellingham, zu sehr mit seinem älteren Bruder Jude Bellingham verglichen zu werden, wenn er den gleichen Karriereschritt machen würde wie Jude einst. Der BVB war ja schließlich auch der Ausgangspunkt für dessen bemerkenswerte Laufbahn.
2020 war der drei Jahre ältere Bellingham-Sprössling, damals ein 16-jähriges Ausnahmetalent, nach Dortmund gewechselt – und hatte sich dort fast aus dem Stand zu einem der besten Mittelfeldspieler überhaupt entwickelt. Drei Jahre später wechselte Jude für über 100 Millionen Euro Ablöse zu Real Madrid, wo er Champions-League-Sieger wurde. Mit 22 Jahren ist Jude Bellingham der Kopf der englischen Nationalmannschaft, ein Weltstar.
„Wir haben darüber gesprochen, was für Jobe der richtige Weg ist“, erinnert sich Watzke an die Unterredung, die er Anfang Juni mit Jobe geführt hatte. Er könne die Befürchtungen bezüglich der Vergleiche mit Jude verstehen würde, sagte Watzke ihm damals. Am Ende müsse aber jeder für sich den richtigen Weg finden – unabhängig davon, wer diesen Weg schon vorher gegangen sei.
Kovac würde sich wünschen, dass Bellingham aus dem Medienfokus verschwindet
Kurz nach Watzkes Besuch sagte Jobe Bellingham Eintracht Frankfurt ab – und entschied sich für den BVB. Er unterschrieb einen Fünf-Jahres-Vertrag, die Dortmunder zahlten über 30 Millionen Euro Ablöse. Es war ihr teuerster und spektakulärster Transfer in diesem Sommer.
Am vergangenen Dienstag spielte der BVB in der Champions League bei Juventus Turin 4:4 (0:0). Es war eine spektakuläre Partie, in der die Dortmunder in der Nachspielzeit noch einen Zwei-Tore-Vorsprung verspielten. Danach gab es viele Themen. Dennoch wurden die BVB-Spieler, der Trainer und die Verantwortlichen nach einem Profi gefragt, der nur eingewechselt worden war und nur wenig Einfluss auf das Geschehen genommen hatte: Jobe Bellingham.
„Ich verstehe natürlich diese Fragerei, doch wir sind beim BVB. Hier ist sehr viel Konkurrenz und Qualität in der Mannschaft“, sagte Niko Kovac.
Der erfahrene BVB-Trainer weiß, wie Profifußball heutzutage funktioniert: indem Geschichten gesucht werden, die über das Spiel hinausgehen. Das nervt ihn. Er würde sich wünschen, wenn die Medien Jobe in Ruhe lassen würden. „Er ist 19 Jahre jung und neu bei uns. Da müssen wir jetzt nicht irgendetwas schreiben, was total unwichtig ist“, so Kovac.
Doch Jobe Bellingham steht aufgrund seines prominenten Nachnamens besonders im Brennpunkt. Jeder seiner Schritte wird in Dortmund aufmerksam verfolgt. Seine Einsatzminuten werden gezählt. Bislang sind es 26 im DFB-Pokal, 141 in der Bundesliga und 19 in der Champions League. In zwei von fünf Pflichtspielen stand er in der Startelf, bei den übrigen wurde er eingewechselt. Das ist für einen Zugang okay. Bellingham spielte engagiert, rannte und kämpfte viel – doch er traute sich nur wenig zu, spielte Sicherheitspässe. Sein Einfluss auf das BVB-Spiel war bislang eher begrenzt. Bellingham hat, was nicht unnormal ist, Anpassungsschwierigkeiten. Deshalb nahm ihn Kovac zuletzt aus der Startelf, was ebenfalls normal ist.
Nur ist Bellingham in der Wahrnehmung der Fans und der Medien kein normaler Spieler – und auch nicht in der seines Vaters. Mark Bellingham, ein früherer Polizist und Amateurfußballer, der sich mittlerweile ganz den Karrieren seiner Söhne verschrieben hat, hatte vor vier Wochen für einen Skandal gesorgt. Nachdem Jobe in Hamburg ausgewechselt worden war, stapfte Bellingham senior in die Katakomben und stellte Sportdirektor Kehl zur Rede gestellt. Ein peinlicher Vorgang für alle Beteiligten. Kehl musste anschließend klarstellen, dass der Kabinenbereich für Unbefugte tabu sei.
„Wir brauchen jetzt nicht alle drei Tage ein Thema um Jobe oder um andere Spieler“, sagte Kehl, als auch er in Turin auf Bellinghams Reservistenrolle angesprochen wurde. „Wir haben einen guten Kader, und der Trainer überlegt, in welcher Konstellation es am besten passt. Das kann am Wochenende schon wieder anders aussehen“, erklärte er. Allerdings ist nicht gesagt, dass Bellingham am Sonntag, wenn die Dortmunder den VfL Wolfsburg empfangen (19.30 Uhr, DAZN), wieder von Beginn an spielen wird.
Denn Kovac nimmt keine Rücksicht auf Namen. Er nutzt die Breite des Angebotes. Im zentralen Mittelfeld kann er aus fünf Nationalspielern – Marcel Sabitzer, Felix Nmecha, Pascal Groß, Salih Özcan und Bellingham – zwei auswählen, um die von ihm bevorzugte „Doppelsechs“ zu bilden. Und vor allem Nmecha hat sich zuletzt nachhaltig ins Team gespielt – sowohl beim 2:0 in Heidenheim als auch in Turin schoss er jeweils ein Tor. Bei Bellingham ist die Dynamik und die Torgefahr, die ein Mittelfeldspieler ausstrahlen sollte, noch nicht zu erkennen.
Großer Schritt vom englischen Zweitligisten zum BVB
„Wir sind froh, dass wir Jobe haben. Natürlich werden wir ihn noch brauchen. Er ist ein wichtiger Spieler für uns, wir haben uns ja auch sehr um ihn bemüht“, bekräftigte Kehl und mahnte zur Geduld mit dem Königstransfer. Die Qualitäten, die Bellingham mitbringt, werden noch benötigt. Allerdings könnte es noch dauern, bis sie zum Vorschein kommen. Es ist trotz allem doch ein großer Schritt von einem englischen Zweitligaklub wie dem AFC Sunderland hin zu einem Spitzenverein der Bundesliga.
Da hilft es wenig, darauf hinzuweisen, dass Jude Bellingham, der vor seinem Wechsel nach Dortmund ebenfalls nur ein paar Einsätze bei einem Zweitligaklub (Birmingham City) vorzuweisen hatte, diese Umstellung deutlich schneller schaffte. „Jobe ist ein wirklich guter Spieler, aber er wird oft mit seinem Bruder verglichen“, sagte Karim Adeyemi, der am Dienstag in Turin ebenfalls zu seinem neuen Teamkollegen befragt wurde. „Das ist nicht einfach für Jobe. Denn er ist ein anderer Spieler“, sagte der Stürmer.
Jobe Bellingham kann tatsächlich ein guter Mittelfeldspieler werden. Davon sind die Dortmunder überzeugt. Wahrscheinlich ist jedoch auch, dass Jude immer besser sein wird als er. Das hatte Jobe befürchtet, damit muss er leben – und mit den Vergleichen mit seinem herausragenden Bruder auch, so ungerecht die auch sind.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke