Gibt es überhaupt noch Hoffnung für Florian Wirtz, Herr Jolly?
Große Sorge um Florian Wirtz. Der ehemalige Leverkusener ist nach seinem Rekordtransfer zum FC Liverpool auf Formsuche. Noch ist der 125-Millionen-Euro-Mann bei seinem neuen Klub ohne Torbeteiligung, auch während der letzten Länderspielperiode war er beim DFB kaum wiederzuerkennen. Nur sein magischer und erlösender Freistoß beim 3:1 (1:1) gegen Nordirland bildete da eine Ausnahme.
In England geht es ohnehin schnell. Nach oben und nach unten. Schon werden Vergleiche zu den bei Manchester United gefloppten ehemaligen Bundesliga-Spielern Henrikh Mkhitaryan und Shinji Kagawa gezogen. Mittelfeldspieler aus der Bundesliga seien grundsätzlich nicht für die harten Bedingungen der Premier League geschaffen. In Deutschland gehe alles gemächlicher und weniger körperlich zu. Der Spielplan wäre freundlicher, heißt es. Kurz: England ist nichts für Feingeister. Das hätten nicht nur die Beispiele der ehemaligen Dortmunder Mkhitaryan und Kagawa gezeigt, sondern auch die des Argentiniers Juan Sebastian Veron oder das von Mesut Özil, der sich in den großen Spielen immer weggeduckt habe.
Ach, wäre er doch bloß zum FC Bayern gewechselt. Lothar Matthäus und Uli Hoeneß hätten weniger Gründe für ihren Dauerstreit gehabt, der Bundesliga hätte die Schönheit seines Spiels gut gestanden und seine dann gute Form hätte er mit zum DFB getragen. Wieso nur, Florian Wirtz? Wieso nur? Wahrscheinlich, weil er nicht den einfachen Weg nehmen wollte.
Dass er so steinig werden würde, zumindest anfangs, war jedoch auch nicht zu erwarten. Erst hatte er kein Glück und dann kam auch noch die Bank dazu. Denn zu allem Überfluss fand sich Wirtz im Derby gegen Everton auf der Bank wieder. Ein Einfallstor für seine Kritiker. Denn die wussten zu berichten, was alle ahnten. Wirtz war nicht herausrotiert worden, sondern aus einem anderen Grund auf der Bank gelandet. Es ist ein Grund, der einen Spieler schnell in die Kategorie Flop drängt. Es hieß, er sei aus der Startelf geflogen, weil ihm die Körperlichkeit für so ein Derby fehle, hieß es später.
"Ja, natürlich hätte ich mir auch schon gewünscht, dass ich schon ein Tor gemacht hätte oder schon ein bisschen Scorer-Punkte gesammelt hätte. Aber, egal was irgendwer sagt, ich bleibe cool", sagt Florian Wirtz nun. Er versuche es in jedem Spiel besser zu machen als vorher. Wirtz weiter: "Manchmal gibt es einfach so Phasen, in denen dann vielleicht nicht alles für dich läuft, das hatte ich tatsächlich noch nicht so oft in meiner Karriere. Wenn ich es überstanden habe - das ist jetzt vielleicht hart gesagt, weil ich nicht schlecht spiele, sondern halt einfach die Scorer-Punkte noch nicht da sind - wird das schon irgendwann kommen und dann ist auch alles gut."
Die nächste Chance, das alles gut wird, gibt es vielleicht bereits im heutigen Ligacup-Spiel gegen Southampton (21 Uhr). Zeit für einen Anruf bei Richard Jolly. Der Fußball-Reporter von "The Independent" hat sie alle gesehen und sieht jetzt auch Florian Wirtz. Er muss die Frage aller Fragen beantworten. Ist da noch Hoffnung für Florian Wirtz?
ntv.de: Herr Jolly, vielen Dank für Ihre Zeit. Es steht nicht gut um Florian Wirtz. Wie nehmen die englischen Medien die ersten Premier-League-Wochen des ehemaligen Leverkuseners wahr?
Richard Jolly: Es ist nicht verkehrt zu sagen, dass der Wirtz-Start allgemein als enttäuschend angesehen wird. Doch es gibt eine Sache, die man dabei bedenken muss: Aufgrund von Alexander Isak [der Ex-Dortmunder streikte sich bei Newcastle United weg, wechselte nach einer Transfer-Saga für 145 Millionen zum englischen Meister , Anm. d. Red.] wurde ihm weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt, als es sonst der Fall gewesen wäre. Es war so: Wirtz war im Vergleich mit Isak eine alte Nachricht.
Denken Sie, dass die hohe Transfersumme für Wirtz eine Belastung sein könnte?
Das habe ich ihn nach einem Vorbereitungsspiel gegen Bilbao auch gefragt. Er hat das bestritten. Das ist glaubhaft. Ich sehe das ähnlich.
In den sozialen Medien wird Wirtz mit Spott und Häme überzogen. Es sind die sozialen Medien. Oder spiegeln sie nur das wider, was die Realität ist? Wie sieht der FC Liverpool die ersten Wochen des jungen Deutschen?
Liverpool sind einigermaßen zufrieden mit ihm, denke ich. Sein Trainer Arne Slot hat Verständnis für die neuen Lebensumstände von Wirtz gezeigt. Dabei hat er einen Vergleich zu seinem Wechsel aus den Niederlanden nach Liverpool gezogen. Er hat über seine eigenen Schwierigkeiten geredet und zu bedenken gegeben, dass Wirtz erst 22 Jahre alt ist.
Die Premier League ist physischer als die Bundesliga. Inwiefern ist diese andere Körperlichkeit ein Problem für junge Spieler?
Schauen wir doch einmal auf die Spiele. Gegen Newcastle United mit ihrem aggressiven Mittelfeld war es für Wirtz ein Kulturschock. Bournemouth gehört nicht nur laut Arne Slot zu den schnellsten Teams der Liga und Arsenal bot gegen ihn praktisch drei defensive Mittelfeldspieler auf. Die hohe Qualität der Premier League führt grundsätzlich dazu, dass jedes Spiel ein schwieriges Spiel sein kann.
Mit Wirtz kamen weitere Spieler aus der Bundesliga. Auch zuvor gab es immer wieder Transfers aus Deutschland. In dieser Saison wirkt der Eingewöhnungsprozess von Hugo Ektitike, dem ehemaligen Frankfurter, stabiler. Er hat bereits drei Tore erzielt, zwei weitere vorbereitet.
Hugo Ektitike wirkt wie ein klassischer Stürmer aus Frankreich. Das ist in England hilfreich. Aber auch er spielt bislang selten über 90 Minuten, auch bei ihm ist Arne Slot der Meinung, dass er sich noch an die Liga gewöhnen muss. Die Sache lag ein wenig anders bei Dominik Szoboszlai. Als der mit damals 22 Jahren aus der Bundesliga kam, war er ein Schnellstarter. Es hat ihm geholfen, dass er körperlich viel stärker war als Wirtz es heute ist.
In Leverkusen hatte Wirtz in Alonsos 3-4-3 viele Freiheiten. Was ist für ihn unter Slot anders?
Slot verlangt von ihm mehr Einsatz ohne Ball und er hat ebenfalls gesagt, dass Wirtz in Liverpool mehr defensive Aufgaben übernehmen muss als in Leverkusens 3-4-3. Florian Wirtz sucht definitiv noch seine Rolle. Er ist ein ganz anderer Spielmacher als Szoboszlai, der unglaublich stark im Pressing ist. Zuletzt hat Slot Wirtz auch im linken Mittelfeld aufgeboten.
Wie fügt Wirtz sich in das System ein?
Es geht gar nicht so sehr um Florian Wirtz. Es sind grundlegendere Dinge: die Änderungen am System. Liverpool hat mehr Gegentore kassiert und hat weniger Kontrolle. Sie präsentieren sich offener. Das beginnt ganz vorne. Dort ist die Arbeit ohne den Ball ganz anders als mit Luis Diaz und Diogo Jota. Um auf Wirtz zurückzukommen. Ich habe es schon gesagt: Er ist als Nummer 10 nicht mit Szoboszlai vergleichbar. Und dann wären da noch der lange angeschlagene Alexis Mac Allister und Ryan Gravenberch. Der ehemalige Münchener hat zwei Spiele verpasst. Hinten rechts muss Liverpool sich an ein Leben ohne Trent Alexander-Arnold gewöhnen. Auf der linken Abwehrseite hat Milos Kerkez zu kämpfen. Die Chemie stimmt überall nicht ganz, trotz des punktemäßig guten Starts.
Gegen Everton saß Wirtz trotz seiner guten Leistung gegen Atletico erstmals auf der Bank. Wieso?
Arne Slot hatte schon vor dem Atletico-Spiel seine Startformation für Everton beisammen. Er hat zuerst geschaut, was er für das Merseyside-Derby benötigte, und erst im Anschluss mit dem Spiel in der Champions League beschäftigt. Die Leistung gegen Atletico spielte deshalb kaum eine Rolle.
Slot spielte gegen Everton wieder mit seinem alten Mittelfeld. MacAllister, Szoboszlai und Gravenberch. Als Wirtz aufs Feld kam, spielte er im linken Mittelfeld. Wer könnte Wirtz Minuten klauen? Gravenberch?
Nein. Aber vielleicht Szoboszlai. Gravenberch wird sowieso spielen. Szoboszlai hat in der vergangenen Saison die Nummer 10 besetzt. In diesem Jahr haben wir ihn schon auf drei Positionen gesehen, sogar als Rechtsverteidiger. Der Ungar wird sicher sehr viele Minuten in verschiedenen Rollen bekommen.
Sie haben errechnet, dass Wirtz bislang 81 Prozent aller möglichen Minuten gespielt hat, dabei aber nur 50 Prozent aller Liverpool-Tore gefallen sind. Sieben der 14 Treffer fielen ohne Wirtz auf dem Platz. Wieso ist das so?
Das sind teils einfach die Umstände. Liverpool hat darauf gesetzt, die Gegner müde zu spielen. Liverpool hat auf späte Tore gesetzt. Wirtz wurde oft ausgewechselt. Die Tore fielen danach. Ein anderer Grund könnte aber auch die Abstimmung sein. Seine Mitspieler müssen sich noch Wirtz' Pässe und Laufwege gewöhnen.
Herr Jolly, Sie schrieben vom Wirtz-Dilemma. Welches Dilemma ist das?
Es geht darum, wo Wirtz spielt. Auf der 10, auf der linken Seite oder auf der Bank? Momentan, gerade weil Liverpool noch auf der Suche nach Stabilität ist, scheint das letztjährige Trio Gravenberch, Szoboszlai und MacAlliter die Nase vorn zu haben.
Gibt es überhaupt noch Hoffnung für Florian Wirtz?
Natürlich. Sehr viel Hoffnung sogar. Liverpool hat Wirtz einen Plan aufgezeigt, wie sie ihn einsetzen wollen. Und dieser Plan wird nicht plötzlich hinfällig sein. Es war ein sehr ambitioniertes Transferziel und Liverpool hatte eine klare Vorstellung, wie sie um ihn herum eine Mannschaft aufbauen. Sie müssen nur den Punkt erreichen, an dem sich alles fügt. Für Wirtz persönlich, aber auch für die Mannschaft.
Mit Richard Jolly sprach Stephan Uersfeld
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