„Nach einem Streit mit Uli Hoeneß musste ein Schreiner kommen“
Es fällt schwer zu glauben, dass der drahtige Mann im engen Kreis seiner extrem großen Familie am Donnerstag bereits den 70. Geburtstag feiert. „Ja, ich bin glücklicherweise noch fit, sowohl körperlich als auch geistig, und ich hoffe, dass das noch lange anhält“, sagt Karl-Heinz Rummenigge. „Mein Vorteil war natürlich auch immer, dass ich dank meiner Frau Martina unsere fünf Kinder und mittlerweile acht Enkel gut behütet wusste. Speziell dank der Enkel bin ich im Fußball nach wie vor ein bisschen aktiv, habe eine gute Beziehung zur Jugend. Das hält jung.“
Frage: Herr Rummenigge, wird aus einem Ihrer Enkel auch ein Weltklassespieler, ein begnadet begabter Dribbel-König, wie Sie einer waren?
Karl-Heinz Rummenigge: Wenn einer dabei wäre, würde ich ihn nicht nennen. Ich habe das damals leider bei Stephan Beckenbauer (gestorben 2015 mit 46; d. Red.) erlebt, der wirklich ein guter Spieler war, der es aufgrund seines Nachnamens aber doppelt schwer hatte.
Frage: Sie verweilten zuletzt ehrfürchtig vor den Bronzestatuen der verstorbenen Legenden Franz Beckenbauer und Gerd Müller, die mittlerweile vor der Allianz Arena stehen. Worüber haben Sie nachgedacht?
Rummenigge: Dass es die zwei größten Spieler waren, die der FC Bayern je hatte, dass sie zu Recht da stehen. Sie haben sich das mehr als verdient.
Frage: Was war die beste Entscheidung Ihres Lebens?
Rummenigge: Erstens, meine Frau Martina zu heiraten. Die zweitbeste war, 1974 von Borussia Lippstadt zum FC Bayern zu gehen. Ich hatte 15 Angebote aus der Bundesliga. Alle in Lippstadt haben gesagt, geh bloß nicht zum FC Bayern. Da hast du keine Chance. Dann habe ich meinen damaligen Jugendtrainer gefragt, und der sagte: „Wenn man ein Angebot von Bayern hat, dann geht man zu Bayern!“ Woandershin kann man immer noch gehen, wenn es nicht klappt. Das habe ich übrigens oft auch jungen Spielern erzählt, die sich unsicher waren.
Frage: Wem?
Rummenigge: Thomas Müller, Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger. Vielen.
Frage: Wenige Jahre später standen bei Ihnen Europas Großklubs Schlange, Sie waren 1980 und 1981 Europas Fußballer des Jahres. Sie haben mal geschildert, wie 1984 Inter Mailand das Rennen um Sie gegen Juventus Turin gewann. Dank der elf Millionen D-Mark Ablöse war Bayern mit einem Schlag schuldenfrei. Doch da hatte es zuvor schon einen erbitterten Zweikampf um Sie gegeben: Real Madrid gegen den FC Barcelona.
Rummenigge: Ich hatte 1980 im Halbfinale des Bernabéu-Cups gegen Ajax Amsterdam zwei Tore geschossen, da kamen führende Herren von Real offen in unser Hotel. Ich war müde, bin gleich ins Bett. Da haben sie mit Uli Hoeneß (damals Bayern-Manager, d. Red.) gesprochen. Der hat richtigerweise die Tür zugemacht. Ich hatte noch so viele schöne Erlebnisse mit Bayern München, unter anderem das Zusammenspiel mit Paul Breitner, das wollte ich auf gar keinen Fall vermissen.
Frage: Beinahe hätten Sie es verpasst, weil Udo Lattek 1981 als Trainer des FC Barcelona drängte.
Rummenigge: Udo wollte mich unbedingt. Er wollte mich mit Diego Maradona in einer Mannschaft haben. Die waren bereit, richtig großes Geld zu zahlen, sowohl was die Ablöse betraf als auch mein Gehalt. Mich hätte es schon gereizt. Doch wieder schob der Uli einen Riegel vor. Europas besten Fußballer verkaufe man nicht. Er würde mir schon einen Wink geben, irgendwann komme der Tag. So sind wir verblieben.
Frage: Im März 1981 war der HSV mit Franz Beckenbauer schon so gut wie Meister. Sie lagen mit Bayern im Volkspark 0:2 hinten.
Rummenigge: Da haben wir Vollgas gegeben. Das war schon beeindruckend, wie Paul Breitner mich halbrechts steil schickte. Ich bin dem Franz (Beckenbauer war von Cosmos New York zum HSV gekommen, d. Red) davongerannt, schoss das 1:2. Paul schaffte mit dem Schlusspfiff das 2:2, wir wurden doch noch Meister. Das Einzige, was mir missfallen hat: Ich hätte lieber einen anderen im Laufduell gehabt als den Franz. Wir waren immer Freunde, wir haben immer großen Respekt voreinander gehabt.
Frage: Grämt es Sie, dass Sie die WM-Finals 1982 und 1986 gegen Italien und Argentinien verloren haben?
Rummenigge: Das war natürlich bitter, speziell das zweite Finale gegen Argentinien. Das würde ich heute gerne noch mal spielen, weil ich damals zu Franz Beckenbauer, unserem Teamchef, gesagt habe, wir beide haben einen Fehler gemacht. Wir waren nach dem Ausgleich etwas zu gierig.
Frage: Sie und Rudi Völler hatten einen 0:2-Rückstand ausgeglichen.
Rummenigge: Es wäre besser gewesen, die Situation zu beruhigen und zu sagen: „Jungs, wir gehen jetzt in die Verlängerung, und dann sind wir die fittere Mannschaft, und wir versuchen erst dann, die Argentinier zu besiegen.“ Das wäre wahrscheinlich die intelligentere Lösung gewesen. Aber ich habe meinen Frieden damit gemacht, denn ich freue mich, dass Diego Maradona seine Karriere mit diesem Pokal krönen konnte. Er war der beste Spieler, den ich je auf dem Platz gesehen habe, und er hat sich den WM-Titel verdient.
Frage: 1991 stiegen Sie zusammen mit Beckenbauer wieder bei den Bayern ein, beide als Vizepräsidenten. Und wieder eng verbunden mit Uli Hoeneß, dem Manager. Ihr Verhältnis war nicht immer so harmonisch. Hoeneß sagte neulich im „Doppelpass“, Sie hätten gestritten wie die Besenbinder …
Rummenigge: (lächelt) Einmal musste sogar ein Schreiner kommen und den Türrahmen wieder einbauen, weil er die Tür so zugeschlagen hatte, dass der Türrahmen gleich mit rausgeflogen ist. Doch ganz ehrlich: Wir haben immer zum Wohl und Wehe des FC Bayern gestritten. Manchmal auch zwei, drei Tage nicht miteinander gesprochen. Doch irgendwann haben wir dann gemerkt: Jetzt reicht es. Jetzt geht es weiter.
Frage: Sie sitzen mittlerweile beide im Aufsichtsrat, sind offiziell also nicht mehr im Tagesgeschäft aktiv. Dennoch mächtiger denn je, enger verbunden denn je. Wann wird Schluss ein?
Rummenigge: Wir werden das so lange machen, bis wir das Gefühl haben, es ist alles zu 100 Prozent in Ordnung. Nachdem es leider vorher nicht zu 100 Prozent in Ordnung war – das muss man auch korrekterweise sagen, speziell, was die Entwicklung der Finanzen des Klubs angeht. Also wenn es zu 100 Prozent in Ordnung ist, dann werden wir auch den Schlüssel den Nachfolgern übergeben.
Frage: Diesen Schlüssel muss man wohl mit einem Fernrohr suchen, um ihn in der Zukunft sehen zu können …
Rummenigge: Ich bin nach wie vor der Meinung, der Klub braucht nicht weniger Uli Hoeneß, sondern mehr.
Frage: Sie haben charismatische Trainer erlebt. Wer kommt Ihnen in den Sinn?
Rummenigge: Als Spieler waren für mich die zwei wichtigsten Dettmar Cramer und Pal Csernai, die meine Talente förderten. Als Vorstandsvorsitzender waren die besten Jupp Heynckes und Pep Guardiola. Die hatten ihre Mannschaft so unter Kontrolle, auf so einem hohen Niveau, dass man sich nie um etwas kümmern musste.
Frage: Carlo Ancelotti bezeichnen Sie sogar als Ihren Freund …
Rummenigge: Carlo war im ersten Jahr ein sehr, sehr guter Trainer, wir haben 2017 frühzeitig die Meisterschaft gewonnen. Als wir ihn im Herbst nach dem 0:3 in Paris vorzeitig entlassen mussten, war das die schlimmste Entlassung, die ich einem Trainer je aussprechen musste. Ich muss ehrlich sagen, dass mir damals die Tränen gekommen sind. Er hat zu mir gesagt: „Du bist jetzt nicht mehr mein Boss, aber du bleibst mein Freund.“
Frage: Sie sprechen oft vom offensiven Spaß-Fußball, den ein Trainer vermitteln muss.
Rummenigge: Das ist auch Louis van Gaal gelungen. Oder Tschik Cajkovski, mit dem wir 1965 in die Bundesliga aufgestiegen sind. Und auch Vincent Kompany, unser jetziger Trainer, passt in diese Kategorie. Weil wir eine schwierige Zeit hatten mit Thomas Tuchel, die ja auch nicht sehr erfolgreich war. 2023 sind nicht wir aus unserer Kraft Meister geworden, da hat Dortmund die Meisterschaft verspielt oder verschenkt, je nachdem, wie man das titulieren will. Mit Vinnie ist die Freude zurückgekommen, wie man an der Spielweise sieht, die Spaß vermittelt. Wir sind mit ihm wieder auf einem Niveau, wo man sagen kann: Das ist FC-Bayern-like.
Frage: Es gibt Zweifel, ob der Klub dieses Niveau halten kann. Bekommt der FC Bayern seine Wunschspieler nicht mehr, so wie bei Florian Wirtz oder Nick Woltemade?
Rummenigge: Ich muss ehrlich sagen, im Falle von Florian Wirtz tut es mir nach wie vor leid, weil ich glaube, der Spieler wäre bei Bayern München besser aufgehoben als beim FC Liverpool. Woltemade hätten wir ja holen können. Doch ich muss auch sagen: Der FC Bayern ist gut beraten, nicht jeden finanziellen Wahnsinn mitzumachen. Ich habe immer gesagt: Wir wollen sportlichen Erfolg haben, doch bitte seriös und solide finanziert. Wir haben eine Topmannschaft. Auch in diesem Jahr wieder. Und wenn jetzt demnächst noch die drei zurückkommen, die aktuell verletzt sind (Jamal Musiala, Alphonso Davies, Hiroki Ito, d. Red.), dann haben wir eine super Mannschaft.
Frage: Den Champions-League-Pokal haben Sie in den letzten Jahren – frei nach Uli Hoeneß – nur durchs Fernglas gesehen, standen seit dem Sieg 2020 nur einmal im Halbfinale.
Rummenigge: Ich bin mir sicher, dass jede Mannschaft, speziell in der Champions League, mit großem Respekt gegen Bayern München antreten wird. Also, wir werden nicht das Hoffenheim des europäischen Fußballs sein. Das kann ich heute voraussagen.
Frage: Bei Bayern haben Sie 2021 als Vorstandsvorsitzender nach 19 Jahren Schluss gemacht, sind raus aus dem operativen Tagesgeschäft. Gab es Entzugserscheinungen?
Rummenigge: Nein. Es war ja selbstbestimmt. Schwieriger wird es wahrscheinlich, wenn dir einer sagt, du musst jetzt aufhören, weil man mit deinen Leistungen nicht mehr zufrieden ist. Doch ich habe ja zu einem Zeitpunkt aufgehört, als wir sehr erfolgreich waren und in anderthalb Jahren sieben Titel gewonnen hatten. Ich bin anschließend mit meiner Familie in einen langen Urlaub nach Sylt gegangen, und die Entzugserscheinungen sind da gar nicht erst groß aufgekommen.
Frage: Sie nehmen gerne das Wort Demut in den Mund. Warum?
Rummenigge: Das ist für mich ein wichtiger Wert gewesen in meinem Leben. Wenn man sein Leben mit Fußball gestalten konnte, dann sollte man sich immer daran erinnern, was man eigentlich für ein Glück hatte. Und dementsprechend habe ich mir immer im Urlaub auf Sylt dieses vermaledeite „Finale dahoam“ angeschaut (2012, das 3:4 gegen Chelsea nach Elfmeterschießen, d. Red.), bis 2021, um wieder ein Stück Demut zu bekommen.
Frage: Wird der FC Bayern in zehn oder zwanzig Jahren noch dieser FC Bayern sein?
Rummenigge: Ich denke, grundsätzlich ist der FC Bayern jetzt wieder auf einem stabilen, guten Weg. Die Leute, die das entscheiden, müssen eine enge Beziehung zu Bayern haben, den Willen haben, den Klub auf Niveau zu halten. Man darf es ja gar nicht laut sagen: Der Verein ist jetzt 50 Jahre auf einem Top-Niveau. Ich wünsche dem FC Bayern auf jeden Fall, dass er weiterhin diesen Spaß vermittelt, seinen Fans diesen Erfolg vermittelt, den er im Moment vermittelt.
Frage: Was wünschen Sie sich selbst zum 70. Geburtstag vom FC Bayern?
Rummenigge: Wenn ich ins Stadion gehe, möchte ich nur schöne Spiele sehen. Idealerweise auch einen erfolgreichen FC Bayern. Fußball ist etwas, was oft vergessen wird: Ein Spiel, das Spaß vermitteln muss. Fußball ist kein Spiel, das man nur gewinnen muss. Am Ende ist nicht das nackte Ergebnis das Entscheidende, sondern die Qualität des Spiels.
Frage: Gibt es einen persönlichen Wunsch?
Rummenigge: Man hofft, dass man so lange wie möglich gesund bleibt. Ansonsten bin ich eigentlich wunschlos glücklich.
Der Text wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) erstellt und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.
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