„Wir haben beschlossen, dass nicht über Politik geredet wird“
Die Stimme hat in den ersten Wochen als Trainer gelitten. Zu dieser Saison hat Marco Sturm die Boston Bruins übernommen. Als Erster in Deutschland Geborener ist der Bayer jetzt Chefcoach in der nordamerikanischen Eishockey-Liga NHL. „Es ist jedes Jahr das Gleiche“, sagt Sturm heiser. „Ich rede in der Vorbereitung viel und laut. Das ist meine Stimme nicht gewohnt.“ Es gibt viel zu tun und zu bereden für Sturm: Die traditionell starken Bruins stürzten vergangene Saison auf den letzten Platz im Osten ab. Also holte Boston mit Sturm einen aufstrebenden Trainer aus der zweiten Liga AHL. Seinen ersten Einsatz als Trainer hat der 47-Jährige in der Nacht zum Donnerstag gegen die Washington Capitals.
WELT: Herr Sturm, in der Nacht zum Donnerstag stehen Sie erstmals als Cheftrainer in der NHL für die Boston Bruins an der Bande. Es geht gegen Washington. Wie erleben Sie die ersten Wochen im neuen Job?
Marco Sturm: Die ersten Tage war es ungewohnt, aber jetzt bin ich definitiv angekommen. Davor war es noch wie ein Traum, jetzt bin ich in diesem Traum angekommen. Das macht einen Riesenspaß. Es ist Freude pur, wenn ich jeden Tag zur Arena fahren kann und mit den Jungs auf dem Eis arbeiten darf.
WELT: Gab es einen Einstand?
Sturm: Davon bleiben die Trainer in der NHL glücklicherweise verschont. Ich musste auch nicht singen oder was anderes machen. Aber meinem Trainerteam habe ich natürlich ein paar Biere ausgegeben.
WELT: Wie lief die erste Ansprache ans Team?
Sturm: Ich habe mir im Sommer überlegt, was ich sagen will. Durch die vielen Gespräche habe ich mitbekommen, wo das Problem lag. Wir sind etwas von dem weggegangen, was die Bruins ausmacht. Der Standard an Einsatz, den wir jeden Tag haben wollen, ist da verloren gegangen. Das war mein Hauptthema. Wir wollen wieder an das anknüpfen. Ich habe erklärt, was ich jeden Tag von den Spielern einfordern werde. Das war meine Botschaft.
WELT: Wie sind Sie als Trainer?
Sturm: Wenn du als Trainer vor einer Mannschaft stehst, dann liegt meine volle Konzentration auf den Spielern oder dem Video, das wir besprechen. Da vergisst du alles außen herum. Ich bin mit vollem Einsatz dabei. An meiner Stimme merkt man, dass es dann manchmal ein bisschen direkter und lauter wird. Aber nicht ins Negative, sondern mehr ins Positive. Alles, was ich sage, kommt immer von Herzen, und ich glaube, das spüren auch die Spieler. Manchmal musst du auch Babysitter oder Cheerleader sein, wenn ich auf der Bank das Gefühl habe, dass die Stimmung nicht passt, aber ich hoffe, dass das nicht so oft nötig sein wird. Manche Spieler bleiben ruhig, ich bin eher einer, der da mehr aus sich herausgeht.
WELT: Sie sagten, die Spieler seien „angepisst“ von der schlechten Vorsaison. Wie wollen Sie diesen Ärger nutzen?
Sturm: Vom Tag eins, als ich den Job übernommen habe, führte ich viele Telefonate. Seither spüre ich bei jedem Training, bei jeder Video-Session, dass die Jungs wirklich gut mitziehen. Natürlich auch, weil es ein Neustart mit einem neuen Trainer ist, aber sicher auch, weil es für die Jungs ein langer Sommer war. Das sind sie nicht gewohnt. Erstmals seit 2016 war Boston nicht in den Play-offs dabei. Die Spieler sind immer noch enttäuscht von dem, was letzte Saison passiert ist.
WELT: Was ist der Schlüssel in Ihrem Spielsystem?
Sturm: Die defensive Intensität ist schon immer bei den Boston Bruins im Blut. Damit haben sie Stanley Cups gewonnen. Das ist unsere Identität und soll sie auch weiter sein. Auf der anderen Seite wollen wir versuchen, mehr Tore zu schießen. Nicht nur im Fünf-gegen-fünf, sondern vor allem auch im Powerplay, wo wir viel besser werden müssen.
WELT: Wer aus der Mannschaft ist in Ihrer Führungsriege?
Sturm: Ganz vorne David Pastrnak und Charlie McAvoy. Sie sind die größeren Leader. Aber wir haben mit beiden Lindholms, Elias und Hampus sowie Nikita Zadorov weiter Jungs in den Reihen, die eine Leadership-Gruppe bilden.
WELT: Was ist das Saisonziel?
Sturm: Wir haben keine Vorgabe, dass wir unter die Top 8, also in die Play-offs kommen müssen. Natürlich wollen wir das. Jeder will das. Für mich zählt vor allem, zu den alten Tugenden zurückzukehren. Die Spieler, Trainer, die Fans in der Stadt, einfach alle sollen merken, dass da etwas vorangeht und wir mehr wollen.
WELT: Wie groß ist der Druck in der Stadt?
Sturm: Momentan ist die Stimmung natürlich noch gut. Das Gute ist, dass ich bereits fünf Jahre als Spieler hier war. Ich weiß, wie schnell sich die Lage in einer Stadt wie Boston ändern kann. Wenn die Stimmung mal schlecht ist, liegt es daran, wie sehr die Leute hier den Verein lieben. Sie wollen einfach das Beste für den Klub und möchten sehen, dass die Spieler kämpfen. Ich habe etwas mehr Kredit, weil ich 2010 bei einem NHL-Freiluftspiel im Baseball-Stadion Fenway Park das entscheidende Tor für die Bruins in der Verlängerung geschossen habe. Das haben die Leute bis heute nicht vergessen. Ich versuche, den Level der Begeisterung der Leute für mich solange wie möglich hochzuhalten.
WELT: Wen halten Sie für die Favoriten auf die NHL-Meisterschaft?
Sturm: Florida hat jetzt zweimal in Folge den Stanley Cup gewonnen und deren Kader wurde eigentlich nicht verändert. Da muss man natürlich der Favorit sein. Leon Draisaitl mit Edmonton wird interessant für mich. Wenn du zweimal im Finale stehst, und beide Male nicht gewinnst, dann muss man abwarten, ob sie noch einmal so motiviert sein werden. Aber mit Leon und Connor McDavid, zwei solchen Ausnahmekönnern, sind sie schon einmal gut aufgestellt. Aber ich denke, dass in der Oilers-Division auch die Los Angeles Kings ein Wörtchen mitreden können. Einige Teams, die vergangenes Jahr enttäuscht haben, wie Nashville, New Jersey oder die New York Rangers, könnten wieder mehr in den Vordergrund kommen.
WELT: Sie haben ein Haus in Florida. Haben Sie inzwischen eine Wohnung in Boston gefunden?
Sturm: Es hat sich etwas hingezogen, vier, fünf Wochen lebte ich in Hotel und Airbnb-Unterkunft. Das war eine stressige Zeit. Aber jetzt haben wir etwas, fünf Minuten von unserer Arena, dem TD Garden.
WELT: Zufälligerweise studiert Ihre Tochter Kaydie an der Universität von Massachusetts in Boston.
Sturm: Sie lebt auf dem Uni-Campus, aber kommt gern mal zum Abendessen bei uns vorbei. Sie vermisst das Essen von der Mama. Unser Sohn Mason ist zweieinhalb Stunden entfernt in Maine an der Uni, kommt auch mal vorbei. Es ist einfach schön, dass wir als Familie wieder öfter zusammen ist. Das habe ich die vergangenen sieben Jahre vermisst, als ich in Kalifornien gearbeitet habe.
WELT: Diese Saison wird durch die Olympischen Spiele unterbrochen, wo die NHL-Stars erstmals seit 2014 wieder teilnehmen. Wie groß ist die Vorfreude der Spieler?
Sturm: Im Sommer habe ich mit allen Spielern telefoniert. Da ging es schon ziemlich oft um das Thema Olympia. Die Spieler sind so was von motiviert. Die freuen sich riesig, dass die NHL wieder dabei ist. Für sie ist es eines der größten Highlights in ihrer Karriere. Beim Four-Nations-Turnier in diesem Jahr hat schon die ganze Welt gesehen, was das für ein Eishockey ist, wenn alle guten Spieler dabei sind.
WELT: Dort gab es hitzige Duelle zwischen den USA und Kanada wegen Donald Trumps Forderungen, dass Kanada der 51. US-Bundesstaat werden solle. Die Spieler prügelten sich auf dem Eis. Kanada jubelt unheimlich über den Finalsieg. Wie geht man in der NHL mit Politik um?
Sturm: Bei uns haben wir beschlossen, dass in der Kabine nicht über Politik geredet wird. Außerhalb kann jeder diskutieren. Ich glaube, damit fahren wir ganz gut.
WELT: Sie leben seit langer Zeit in den USA. So gespalten wie jetzt war das Land bisher sicher nicht, oder?
Sturm: Das ist leider richtig. Es ist verrückt und beängstigend, wie die Situation momentan ist. Wenn man beobachtet, was alles passiert, wie die Schießereien und Anschläge.
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