„Das Loch in meinem Schädel war so groß wie drei Kreditkarten“
Kurz gesagt: Cyprien Sarrazin ist ein Wunder. Nach seinem schweren Sturz im Dezember 2024 leidet der französische Skirennfahrer zwar noch immer unter Schmerzen in den Knien. Im Interview erzählt er aber von der mentalen Stärke, die es ihm ermöglicht hat, die pessimistischsten Prognosen nach seinem Unfall zu übertreffen. Der zweimalige Sieger von Kitzbühel wird diese Saison zwar aussetzen, träumt aber davon, zurückzukehren, um seinen Schweizer Kumpel Marco Odermatt in der Abfahrt herauszufordern.
In der Saison 2023/24 war Sarrazin einer der wenigen, der Odermatt in Sachen Geschwindigkeit Paroli bieten konnten. Die gesunde Rivalität zwischen den zwei Athleten wurde durch den schweren Unfall des Skifahrers aus Dévoluy jäh beendet. Am 28. Dezember 2024 stürzte Sarrazin beim Training in Bormio, wo er ein Jahr zuvor seinen ersten Weltcupsieg gefeiert hatte, heftig auf der vereisten Stelvio. Der Aufprall war brutal. Man fürchtete um sein Leben, seine Gesundheit und seine Karriere.
Anfang Oktober treffen wir ihn zum Interview am Sitz seines Ausrüsters Rossignol in Saint-Jean-de-Moirans in der Nähe von Grenoble. Seine Genesung verlief besser als ursprünglich prognostiziert. Auch wenn er noch nicht weiß, wie seine Zukunft aussehen wird und ob er Odermatt in der Abfahrt erneut herausfordern kann, brennt der Franzose nach wie vor für den Sport.
Frage: Sie hören diese Frage ständig, aber wie geht es Ihnen?
Cyprien Sarrazin: Ich bin da. Ich komme voran. Ich kann Ihnen sogar sagen, dass alles in Ordnung ist. Was mich zwar stört, sind diese Knieschmerzen, die mich verrückt machen. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was mir vor neun Monaten passiert ist. Ich habe keinerlei neurologische Folgeschäden mehr. Ich habe alle meine körperlichen, geistigen und kognitiven Fähigkeiten wiedererlangt. Ich mache Tag für Tag Fortschritte, selbst wenn ich wieder intensiver Sport treibe, wie zum Beispiel Mountainbiken.
Frage: Sind die Knie ein Hindernis in dieser langen Phase des Wiederaufbaus?
Sarrazin: Ja. Das ist das große Problem. Meine Knie hindern mich daran, den Sport auszuüben, den ich so gerne mache. Es sind starke Schmerzen im Knorpel, die schon vor meinem Sturz da waren und nun wieder aufgetreten sind. Das beschäftigt mich sehr, manchmal macht es mich sogar verrückt. Ich bin kurz davor, in eine Art Depression zu verfallen. Alle sagen mir: „Los, es ist okay, du hast grünes Licht für alles!“ Aber ich bin es, der sich selbst einschränkt und bremst. Ich nehme mir Zeit, weiß, wie wichtig Belastbarkeit ist, mit all den Verletzungen, die meine Karriere geprägt haben. Aber noch einmal: Letztendlich sind das nur Kleinigkeiten, denn es hätte viel schlimmer kommen können.
Frage: Haben Sie ein Datum für Ihre Rückkehr auf die Skier festgelegt?
Sarrazin: Nein, ich habe kein genaues Datum. Da ich diese Saison aussetzen werde, gibt es keinen Stress. Ich möchte vor allem mental fit sein, eine gute Zeit haben und auch körperlich wieder in Form kommen. Allerdings möchte ich unter guten Bedingungen wieder auf die Skier steigen, Kurven fahren und Spaß haben können. Im Moment habe ich keine Lust, um 4 Uhr morgens aufzustehen, um auf einem Gletscher Ski zu fahren.
Frage: Haben Sie noch andere körperliche Folgen davongetragen?
Sarrazin: Ich hatte ein subdurales Hämatom, weil das Gehirn geblutet hat. Um die Blutung im Gehirn zu beseitigen, haben die Ärzte meinen Schädel mit einem Laser aufgeschnitten. Um Ihnen eine Vorstellung von der Größe zu geben: Das Loch war so groß wie drei Kreditkarten. Nach einer sechsstündigen Operation haben sie alles wieder zugenäht. Ich hatte eine riesige Narbe, die von der Stirn bis zum Ohr reichte, wodurch ich wie ein Wikinger aussah.
Frage: Man sieht fast keine Spuren mehr von dieser Narbe ...
Sarrazin: Das stimmt, man sieht fast nichts mehr. Ich habe noch ein kleines verkalktes Hämatom am Rücken, weil ich durch den Aufprall bei meinem Sturz zwei, drei Liter Blut verloren habe. Ich habe auch noch ein kleines Loch im Schädel, das sie mit einem Metallstern verschlossen haben. Als ich neulich aus meinem Auto stieg, stieß ich gegen einen Metallpfosten und es machte „stiiiing“. Die Haut bleibt manchmal an diesem Stern hängen, das ist etwas unangenehm. Ansonsten spüre ich nichts mehr in meinem linken Nasenloch, was mit einer Anosmie zusammenhängt. Anfangs fehlten mir die Worte. Das war sehr schwer, aber ich habe diese Fähigkeit wiedererlangt. Was meine Augen betrifft: Ich litt unter Diplopie, das heißt, ich sah doppelt. Nach drei Monaten war alles wieder normal, obwohl man mir gesagt hatte, dass dies mein Leben lang so bleiben könnte.
Frage: Sie sind ein Wunder, ist Ihnen das bewusst?
Sarrazin: Mir war klar, dass ich dem Tod nur knapp entkommen war und Glück gehabt hatte, keine schwerwiegenden Folgen für den Rest meines Lebens davonzutragen, insbesondere, als ich einige Monate nach meinem Sturz in Interviews über den Unfall sprach. Der Tod von Matteo Franzoso (Der 25-jährige Italiener starb Mitte September beim Training in Chile an einem Hirnödem nach einem Sturz, d. Red) hat mich emotional sehr mitgenommen. Ich kannte ihn sehr gut. Sein Tod hat mich sehr getroffen. Wir waren zusammen im Europacup, er hatte ein Rennen knapp vor mir gewonnen, dann umgekehrt. Als wir im Weltcup ankamen, tauschten wir uns viel über die Rennen aus. Sein Tod war ein schwerer Schlag für mich, mir wurde wirklich bewusst, dass ich einen Glücksstern hatte und er nicht. Ich denke an seine Familie und seine Angehörigen. Glücklicherweise war ich nicht allein, als ich die Nachricht erhielt, und werde psychologisch betreut.
Frage: Die Sicherheit steht im Mittelpunkt der Diskussionen vor diesem Winter, insbesondere die Helme, deren Norm seit 2013 nicht mehr aktualisiert wurde.
Sarrazin: Unsere Helme müssen weiterentwickelt werden! Man kann nicht mit fast 150 km/h eine vereiste Piste hinunterfahren und nur so einen Schutz haben. Wir haben keine Panzerung um uns herum, der Helm ist eine der wenigen Schutzvorrichtungen. Meiner ist bei meinem Sturz explodiert, er wurde zur Analyse eingeschickt, aber ich nehme an, dass er seine Aufgabe erfüllt hat. Das Gleiche gilt für meinen Airbag, der in tausend Stücke zerplatzt ist. Wenn man unsere Helme mit denen der MotoGP-Piloten vergleicht, insbesondere was die Dicke betrifft, sind wir wirklich weit davon entfernt. Ich habe zwar keine Lösung, das ist nicht mein Fachgebiet, aber mir ist bewusst, dass das Thema kompliziert ist. Ich bin mir jedoch sicher, dass wir gemeinsam Fortschritte erzielen können, um uns besser zu schützen. So kann es einfach nicht weitergehen. Wir müssen umdenken und den Athleten zuhören, die wie ich schwere Stürze erlitten haben. Niemand hat mich direkt um meine Meinung gebeten, um daraus Lehren zu ziehen. Es ist wirklich nicht optimal, auf Unfälle oder sogar Todesfälle zu warten, um unseren Sport weiterzuentwickeln.
Frage: Was gibt Ihnen Kraft während dieser langen Rehabilitation?
Sarrazin: Das Gefühl der Erfüllung wieder zu erleben, das mir mein Sport vermittelt.
Frage: Ich nehme an, Sie sprechen insbesondere von Ihren beiden Siegen in Folge in Kitzbühel im Jahr 2024. Das Video Ihres zweiten Erfolgs, als Sie mit fast einer Sekunde Vorsprung vor Marco Odermatt gewannen, könnte man in Skischulen zeigen, um junge Menschen zum Skifahren zu motivieren …
Sarrazin: Ich hatte diese Harmonie mit der Piste, mit mir selbst, eigentlich mit allem gefunden. Ich hatte es geschafft, mich selbst so zu begeistern und gleichzeitig dieses Gefühl an die Menschen weiterzugeben. Für solche Momente betreibt man diesen Sport, der immer noch ein Vergnügen ist. In Kitzbühel war es ein Kampf gegen mich selbst, nicht gegen die anderen. Es war unglaublich, und wenn ich daran zurückdenke, hilft mir das, nicht aufzugeben. Aber als ich nach sechs Tagen Amnesie in meinem Krankenhausbett lag und endlich wieder auf den Speichern-Knopf drücken konnte, sagte man mir, es wäre schon ein Wunder, wenn ich jemals wieder ein normales Leben führen könnte. Ich muss zugeben, dass ich damals nicht an das nächste Ski-Jahr dachte, sondern an all die Arbeit, die ich vor meinem Unfall geleistet hatte.
Frage: Eine körperliche, aber auch und vor allem mentale Arbeit, richtig?
Sarrazin: Genau. Körperlich hatte ich zum Zeitpunkt meines Sturzes meinen Höhepunkt erreicht oder war zumindest kurz davor. Im Vorfeld habe ich viel an meinen kognitiven Fähigkeiten gearbeitet und vor über zwei Jahren psychologische Hilfe in Anspruch genommen, um insbesondere besser auf meine Emotionen zu hören. Das hat mir beim Skifahren und im Leben geholfen. Ich bin überzeugt, dass diese Arbeit meine Rehabilitation erleichtert hat, die schneller als erwartet verlief.
Frage: In den Monaten vor Ihrem Unfall wirkten Sie völlig befreit ...
Sarrazin: Genau das war es: eine Befreiung. Ich hatte alles in mir: die Technik, die körperliche und mentale Verfassung. Ein Zustand der Erfüllung. Aber wie gesagt, das habe ich nicht einfach so aus dem Nichts geschafft. Dieses Gefühl der Leichtigkeit habe ich nach den beiden Siegen in Kitzbühel nur schwer wiedergefunden, denn von diesem Moment an gab es enorme Veränderungen in meinem Leben. Ich brauchte etwas Zeit, um alles zu stabilisieren und diese Leichtigkeit wiederzufinden, denn hinter Cyprien, dem Skifahrer, steht ein Mensch. Alles ging sehr schnell, aber das gehört zu meiner Erfahrung und meinem Weg, ich bereue nichts.
Frage: Sie feiern am Montag, 13. Oktober, Ihren 31. Geburtstag. Um wieder an die Spitze des Welt-Skisports zurückzukehren, werden Sie viel Energie und Zeit aufwenden müssen, aber für einen Abfahrtsläufer sind Sie noch jung ...
Sarrazin: Viel Energie, ja. Wenn meine Knie schmerzen und mich das mental aus der Bahn wirft, habe ich manchmal Angst: „Was, wenn es nicht klappt?“ Als Sportler fühlt man sich nicht mehr wertvoll, wenn man seinen Sport nicht ausüben kann. Als ob unser Wert nur von unseren Ergebnissen abhinge. Das ist der Weg, den ich gerade gehe: zuerst an den Menschen zu denken, aber das ist nicht jeden Tag einfach. Manchmal gibt es Tiefpunkte, sogar sehr tiefe Tiefpunkte. Ich versuche, alles zu schätzen, was ich tun kann, die Zeit zu genießen, ohne wirklich zu wissen, wie es weitergehen wird. Alles ist möglich.
Frage: Haben Sie sich schon einmal vorgestellt, dass Sie nicht mehr auf die Piste zurückkehren? Was würde aus Cyprien Sarrazin ohne den Skisport werden?
Sarrazin: Das ist derzeit die schwierigste Frage. Bis jetzt habe ich nur den Skisport gekannt, mit mehreren Verletzungen. Ich weiß, dass es neben dem Skifahren noch andere Dinge gibt, die mich begeistern, dass ich meine Familie und meine Freunde habe. Das war mir schon vor meinem Unfall bewusst. Aber wenn ich mit dem Skifahren aufhören muss, habe ich mir – ehrlich gesagt – noch nie konkret Gedanken darüber gemacht, wie es danach weitergehen soll. Vielleicht auch, weil alles so schnell ging. Die ganze Arbeit, die ich geleistet habe, insbesondere mit der psychologischen Betreuung vor zwei Jahren, hat mich befreit und wird mir ermöglichen, etwas aufzubauen. Und dank meiner Siege in Kitzbühel und meiner Bekanntheit kann ich meine Erfahrungen, die ich erlangt habe, weitergeben. Das konnte ich in den letzten Monaten insbesondere bei Formel-1-Rennen oder beim Mountainbike-Weltcup in Les Gets schon tun. Das mache ich sehr gerne, es gibt unzählige Möglichkeiten. Aber ich habe mir noch nicht wirklich die Zeit genommen, all diese Türen zu öffnen. Ich denke, dass ich es verdiene, mir alle Chancen zu geben, um wieder das zu tun, was ich am meisten auf der Welt liebe.
Dieses Interview erschien zuerst in der französischsprachigen Schweizer Tageszeitung „24 heures“, wie WELT Mitglied der „Leading European Newspaper Alliance“ (LENA).
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke