Oberdorfs Drama alarmiert: Frauenfußball hat ein Kreuzband-Problem
Das Comeback im DFB-Trikot platzt: Lena Oberdorf spielt nicht gegen Frankreich in der Nations League, sondern muss erneut mit einem Kreuzbandriss zuschauen. Wie eine ganze Reihe von Spielerinnen. Es zeigt sich ein immenses Problem im Fußball der Frauen - mit vielfältigen Gründen.
Ein Riss sorgt für Entsetzen: Lena Oberdorf hat sich zum zweiten Mal das Kreuzband im rechten Knie gerissen. Nur 50 Tage nach ihrem Comeback fällt der Mittelfeldstar erneut aus. Vorher hatte sie 410 Tage Zwangspause einlegen müssen. Gerade sollte es wieder so richtig losgehen - auch im DFB-Team.
Doch nun ist die 23-Jährige erneut eine von vielen Fußballerinnen, die wegen der schwerwiegenden Knieverletzung zum Zuschauen verdammt sind. "Ich kann nur sagen, dass wir an ihrer Seite sind, alles tun, was wir tun können", sagte DFB-Sportdirektorin Nia Künzer. Allein im Umkreis des DFB-Teams sind einige betroffen: Stürmerin Giovanna Hoffmann von RB Leipzig verletzte sich in der vergangenen Woche. Im Februar hatte sich bereits Marie Müller im DFB-Training verletzt, im März erlitt Torhüterin Sophia Winkler von Eintracht Frankfurt dasselbe Schicksal. Defensivspielerin Bibiane Schulze Solano wurde von Bundestrainer Christian Wück erstmals nach ihrer Genesung wieder nominiert - wie eigentlich auch Oberdorf. Zudem erwischte es die langjährige Nationaltorhüterin Merle Frohms vergangene Woche im Champions-League-Spiel ihres Klubs Real Madrid gegen Paris St. Germain.
Wück will mehr Beachtung fürs Thema
Derzeit sind laut Soccerdonna bei den 14 Bundesliga-Teams 16 Spielerinnen betroffen. "Das macht gerade allen bisschen Angst, wenn man sein Handy öffnet und irgendwie jeden Tag eine neue Verletzung auf seinem Handy hat", sagte Oberdorfs Bayern- und DFB-Kollegin Alara. Oberdorf ist eine von drei Bayern-Spielerinnen mit dieser Diagnose: Sarah Zadrazil ist ebenso betroffen wie die im Sommer gewechselte Barbara Dunst, die sich schon im Dezember, noch in Diensten von Eintracht Frankfurt, verletzte. Die beiden sind Österreicherinnen, dem Team fehlen mit Lilli Purtscheller von der SGS Essen und Marie Höbinger vom FC Liverpool ebenfalls weitere Spielerinnen.
"Die Französinnen und andere Nationen haben die gleichen Probleme", betonte auch Wück vor den nun anstehenden Spielen im Nations-League-Halbfinale gegen Frankreich. "Wir müssen uns im Großen und Ganzen Gedanken machen, wie wir das medizinisch besser in den Griff kriegen." Er forderte mehr Beachtung: "Es ist ein Thema, wo wir uns natürlich Gedanken machen müssen, woran das liegt. Ob es ein Frauenfußball-Problem ist oder ob es ein Problem der Überbelastung ist."
Mehr Belastung auch bei den Frauen
In der Tat werden die Spielpläne auch bei den Frauen immer umfangreicher. Die Frauen-Bundesliga wurde jüngst von 12 auf 14 Teams aufgestockt. In der Champions League gibt es mit Einführung der Ligaphase analog zu den Männern mehr Spiele. 2023 fand die Weltmeisterschaft erstmals mit 32 Teams statt, 2031 werden 48 Teams beteiligt sein. Zudem wurde 2023 die Nations League eingeführt.
Gleichzeitig wird der Fußball der Frauen immer professioneller. Immerhin Spielerinnen der Spitzenklubs können inzwischen davon leben. Während es vor wenigen Jahren noch üblich war, dass Fußballerinnen neben dem Sport einer weiteren Arbeit nachgehen mussten, um Geld zu verdienen. Die Frauen sollten heutzutage also eigentlich mehr Zeit für Regeneration haben. Künzer, die selbst während ihrer aktiven Karriere vier Kreuzbandrisse erlitt, sagte zudem: "Die Bedingungen haben sich seit meiner Zeit enorm verbessert. Wir haben im medizinischen, im athletischen, im Physio-Bereich natürlich wahnsinnige Fortschritte gemacht."
Im Profifußball schon, doch Sportwissenschaftlerin Saba Shakalio, die als Athletiktrainerin bei den Frauen des FC St. Pauli arbeitete, betonte ein strukturelles Problem: "Frauen absolvieren deutlich weniger Athletikeinheiten als Männer und dieses Problem beginnt bereits im jungen Alter", sagte sie bei Indivisa. Männliche Nachwuchsspieler würden früh an professionelles Athletiktraining herangeführt, weibliche häufig nicht. Dabei könnte präventives Krafttraining entscheidend sein.
Frauen vier- bis sechsmal häufiger betroffen
Denn die Verletzungsquote ist immens. Studien zufolge sind Profisportlerinnen etwa vier- bis sechsmal häufiger betroffen als ihre männlichen Kollegen. Sie könne nur appellieren, "weiter dranzubleiben, zu forschen und dann zu schauen, was man möglicherweise präventiv noch mehr dagegen tun kann", so Künzer.
Ein Grund für die höhere Quote sind geschlechtsspezifische Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Dr. Benjamin Bartek, Oberarzt am Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie der Charité Berlin, verwies schon im Juli 2022 im Gespräch mit ntv.de auf die geringere Muskelmasse von Frauen. "Je kräftiger die Muskulatur ist, die ein Gelenk umgibt, desto besser ist es geschützt." Dass Frauen über weniger Muskelmasse verfügen, liege nicht etwa an schlechterem Training, auch bei gleichem Leistungsniveau mache die Biologie einfach einen Unterschied.
Zudem tendieren Frauen eher zum X-Bein, während Männer eher O-Beine haben. Es zeigt sich häufiger ein sogenanntes funktionelles X-Bein, was bedeutet, dass die funktionelle Beinachse muskulär nicht gehalten werden kann und das Knie in der Dynamik nach innen einknickt, erklärten Bartek und Dr. Henning Ott von der Praxis Sportortho rheinmain übereinstimmend. Das sei per se ein "Risikofaktor". "Frauen springen anders und landen anders, das zeigen Analysen", erklärte Ott, der bis 2015 auch die Frauen der TSG Hoffenheim betreute, zudem Mannschaftsarzt der Männer des Klubs sowie von Eintracht Frankfurt war. "Sie springen häufiger in Rücklage und das erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Kreuzbandrisses." Es gäbe Ideen, dies möglichst zu verhindern, Frauen quasi umzuerziehen, dass sie anders springen. Denn natürlich wäre es besser, wenn ein Grund für Verletzungen vermieden wird. Doch der Ansatz wurde - wenig verwunderlich - als utopisch verworfen.
Es gibt zudem weitere anatomische Gründe: Die Neigung des Schienbeinkopfes ist im weiblichen Knie vermehrt, so Bartek. "Wenn der sogenannte tibiale Slope vermehrt ist, habe ich eine größere Last auf das vordere Kreuzband, was auch ein negativer Einflussfaktor ist." Auch ein weiteres Detail unterscheidet sich einflussreich: Die Notch, der Bereich, in dem hinteres und vorderes Kreuzband verlaufen und ihren Ursprung haben, ist bei Frauen anatomisch eher schmal angelegt, bei Männern eher weit. Die schmale Notch begünstigt zusätzlich das Risiko für Kreuzbandverletzungen. Die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie verweist zudem darauf: "Das vordere Kreuzband ist bei Frauen im Durchschnitt dünner und schwächer als bei Männern, es reißt also schneller bei hoher Belastung."
Zyklus als Faktor
Ein weiterer möglicher Faktor: der weibliche Zyklus. Forscher der Universität Lincoln untersuchten 2021 156 Kreuzbandverletzungen von internationalen Fußballerinnen: "Es hat sich gezeigt, dass in der späten Follikelphase, also kurz vor dem Eisprung, ein doppelt so hohes Risiko besteht für Verletzungen wie in der Phase kurz vor der Menstruation", nannte Ott das Fazit. Inzwischen orientieren sich viele Klubs - auch in der Bundesliga - im Training am Zyklus. Seit Juni läuft an der englischen Universität Kingston eine Studie, die den Einfluss des Zyklus auf das Verletzungsrisiko untersucht. Fußballerinnen des FC Chelsea und des FC Fulham nehmen an der von der FIFA finanzierten Untersuchung teil.
Auch Stress könnte ein Faktor sein, sagte Leonard Achenbach der dpa. Der Münchner Orthopäde und Unfallchirurg ist Koordinator Fußballmedizin beim DFB und betreut die Frauen des FC Bayern. Dieser Verdacht müsse aber wissenschaftlich noch bewiesen werden: "Derzeit stützen sich diese Annahmen ausschließlich auf Erfahrungswerte, eine fundierte wissenschaftliche Analyse steht noch aus."
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