Klopp wird in Liverpool immer verehrt werden. Vermisst wird er nicht mehr
Nirgendwo feiert sich eine Meisterschaft so schön wie zu Hause, insofern freuten sich viele in Liverpool bereits am vergangenen Mittwochabend ausnahmsweise mal über Tore des ärgsten Verfolgers. Durch ein Remis des FC Arsenal gegen Crystal Palace stand ihr Klub noch nicht mathematisch als englischer Meister fest. Die Spieler gingen trotzdem freudig in den weiteren Wochenverlauf, weil sie wussten, dass die große Party an der Anfield Road nur aufgeschoben war. Am fünftletzten Spieltag zerlegte der FC daheim Tottenham mit 5:1 (3:1) und durfte hinterher reichlich feiern.
Der souveräne Triumph in der Premier League ist keine gewöhnliche Meisterschaft, denn mit dem 20. Titel zieht Liverpool erstmals seit Längerem wieder mit dem Erzrivalen Manchester United gleich. Während einer drei Jahrzehnte langen Dürre zwischen 1990 und 2020 hatte es den einst unangefochtenen Status in der historischen Ehrentafel eingebüßt. United-Trainerlegende Alex Ferguson erreichte mit 13 Titeln zwischen 1993 und 2013 sein ehrgeiziges Ziel, „Liverpool von seinem verdammten Thron zu stoßen“. Doch jetzt schauen sie auch 30 Meilen weiter östlich wieder von oben auf Englands Fußball, jetzt dürfen sie sich auch in Anfield wieder Rekordchampion nennen.
Vielleicht schon bald könnten sie den Thron sogar ganz für sich haben: Während das Post-Ferguson-United immer tiefer abstürzt – derzeit Tabellenplatz 14 – und nicht den Eindruck baldiger Meisterfähigkeit macht, erinnerte Liverpools Überlegenheit in dieser Saison an die teils unerbittliche Herrschaft der „Reds“ in den 1970er- und 1980er-Jahren. „Jenseits meiner wildesten Träume“ nannte sie Abwehrchef Virgil van Dijk, seit acht Jahren im Klub. Der Vorsprung auf Titelverteidiger Manchester City auf Rang vier ist größer als dessen Abstand zu Crystal Palace auf Rang zwölf.
Arne wer?
Dabei hatte Liverpool vor der Saison keineswegs als Topfavorit gegolten, schließlich hatte es einen epochalen Umbruch zu bewerkstelligen. Nach neun Jahren ging mit Jürgen Klopp die messianische Überfigur, die den Verein überhaupt erst wieder wachgeküsst hatte. Als der Deutsche bei seinem tränenreichen Abschied die Fans aufforderte, zur Melodie von „Life is live“ den Namen seines Nachfolgers Arne Slot zu skandieren, mochten unbedarfte Beobachter noch fragen: Arne wer?
Arend Martijn Slot, 46, hatte zuvor nur in der Eredivisie der Niederlande gearbeitet – erfolgreich zwar mit Meisterschaft und Pokal bei Feyenoord Rotterdam, aber eben in keiner der großen Ligen Europas, aus denen die Premier League sonst ihre Trainer rekrutiert. Ganz offenkundig fehlte ihm außerdem Klopps Charisma. Andererseits: Wer hat das schon?
Slot, ein bekennender Fußballjunkie, machte sich auf seine Weise an die Arbeit. Ohne viel Wind, aber mit umso mehr Akribie und Beobachtungsgabe. Zu keinem Moment versuchte er Klopp zu kopieren. Ebenso wenig veränderte er nur um des Veränderns willens, aus Eitelkeit oder Geltungsdrang. Ein paar Dinge sind neu, so übernachten die Spieler jetzt nicht mehr vor Heimspielen gemeinsam im Hotel wie noch unter Klopp. Aber vieles ließ Slot unberührt.
Damit kam er, sah und siegte. Der große Unbekannte führte sich mit dem Klubrekord von elf Siegen in den ersten zwölf Spielen ein und verlor nur eines seiner ersten 28 Matches. Aus jener ersten Saisonhälfte erinnern sich alle an einen ruhigen Mann an der Seitenlinie, die Hände meist in den Taschen von Hose oder Kurzmantel.
Kontrollierter als bei Klopp kommt unter Slot auch der Fußball daher. In das „Heavy Metal“ des Deutschen mischte er balladenartigere Sequenzen, in Powerfußball und Pressing auch die Passstafetten und Positionsattacken der niederländischen Schule. Liverpool reüssierte durch seine kaum zu verteidigenden Spielverlagerungen von innen nach außen. Und manchmal durch so spannende Innovationen wie eine „doppelte falsche Neun“ – gleich zwei gelernte Mittelfeldspieler als Sturmspitzen.
In den besten Momenten wirkte Liverpools Spiel wie eine fast komplette Mischung der Stile, eine Art Lexikon des modernen Fußballs. Slot witzelt gern, dass er den Fußball so gut zu verstehen lernte, weil er als Spieler so langsam war, dass ihm nichts anderes übrigblieb. Als Spielgestalter von Klubs wie Zwolle, Breda oder Sparta Rotterdam konnte er niemanden ausdribbeln, er benötigte für seine Pässe immer die Mitspieler und ihre Bewegungen im Raum: „Ich musste viel über das Spiel nachdenken.“
Das Ergebnis seiner Tüfteleien mag ästhetisch nicht so umwerfend daherkommen wie bei niederländischen Meistern à la Johan Cruyff und Louis van Gaal oder beim (vorübergehend) abgehängten Spanier Pep Guardiola und dessen Manchester City. Dafür beeindruckte die Konstanz der Liverpooler Offensive umso mehr. In 29 von 34 Ligapartien purzelten aus der „Slot Machine“ immer mindestens zwei Tore. Auswärts war sie in jedem Match zielsicher und steuert damit auf einen weiteren Klubrekord zu.
Kapitän van Dijk erklärt, dass die personell im vergangenen Sommer fast unveränderte Mannschaft unter seinem Landsmann „das nächste Level gefunden hat“, was Beständigkeit und Lösungsmöglichkeiten angehe. Der neue Trainer und seine Assistenten verdienten viel Lob dafür, „aus den Niederlanden zu kommen, sich so schnell anzupassen, so viele Spieler besser in unserer Spielweise zu machen, Vertrauen in die Spielweise zu geben“. Klopp wird in Liverpool immer verehrt werden. Vermisst werden muss er soweit nicht – und wer hätte das schon vorauszusagen gewagt?
Salah mit 46 Scorerpunkten
Dem sanften Übergang zuträglich waren Kontinuität und Formstärke der beiden Schlüsselspieler van Dijk, 33, und Mohamed Salah, 32. Der Abwehrchef hat selbst für seine hohen Standards eine außergewöhnliche Saison hingelegt und gehört nicht nur in etlichen Defensivstatistiken zu den Ligabesten, sondern führt auch die Passstatistiken für Verteidiger an. In Liverpools Spielaufbau ist er die entscheidende Figur.
Rechtsaußen Salah wiederum, oft Adressat von van Dijks gefürchteten Steilvorlagen, hat die wohl beste seiner vielen guten Spielzeiten in acht Jahren Liverpool hingelegt. Wie van Dijk, der nicht eine Minute verpasste, stand der Ägypter bisher in allen 34 Ligaspielen in der Startelf und kommt dabei auf 28 Tore und 18 Torvorlagen. Mit zusammen 46 Scorerpunkten hat er die persönlichen Rekorde von Granden wie Luis Suárez (Ex-Liverpool), Thierry Henry (Ex-Arsenal) und Erling Haaland (City) schon überboten – und noch vier Spiele, um die besten Marken der Premier-League-Ära (seit 1992) von Andy Cole und Alan Shearer (jeweils 47) zu kassieren. Salahs Kombination aus Dribbelkunst und Abschlussstärke sucht in England ihresgleichen.
Umso größer war die Erleichterung bei den Fans, als er und van Dijk kürzlich ihre auslaufenden Verträge verlängerten. Angesichts ihres fortgeschrittenen Alters scheint dennoch klar, dass Slots Projekt weitere Entwicklung braucht. Im Mittelfeld hat der Trainer aus Ryan Gravenberch, zuvor bloß Ergänzungsspieler beim FC Bayern wie unter Klopp in seiner ersten Liverpool-Saison, einen defensiven Anker gemacht und damit die Offensivkräfte des argentinischen Weltmeisters Alexis Mac Allister und des Ex-Leipzigers Dominik Szoboszlai freier entfesselt.
Ambitionierte Beobachter erachten diesen Mannschaftsteil gleichwohl noch für verbesserungsfähig. Auch die Positionen neben Salah im Angriff wie die der Außenverteidiger, wo das offensivstarke Eigengewächs Trent Alexander-Arnold vor einem Wechsel zu Real Madrid stehen soll, gelten als Handlungsfelder für den anstehenden Transfersommer.
Aus in sämtlichen Pokalwettbewerben
Zu Liverpools Saison gehört nämlich auch ein deutlicher Abfall in den vergangenen Monaten mit dem Aus in sämtlichen Pokalwettbewerben. Ob unglücklich wie im Elfmeterschießen des Champions-League-Achtelfinals gegen Paris Saint-Germain. Blamabel wie beim Zweitliga-Schlusslicht Plymouth Argyle im englischen Pokal. Oder final wie im Endspiel des Ligacups gegen Newcastle United.
In dieser Phase lernten die Fans, dass auch der abgeklärte Arne Slot mal die Nerven verliert – wie bei einer Schiedsrichterbeschimpfung nach dem Stadtderby bei Everton, die ihm eine Zwei-Spiele-Sperre eintrug. Und so mischen sich in die Meisterlaune dieser Tage auch Stimmen, die vorhersagen, dass Slots wirkliche Herausforderungen erst noch kommen. Wenn er auch mal eine längere Krise managen muss. Wenn er Transfers mitbestimmt haben wird und damit auch für sie zur Rechenschaft gezogen werden kann. Wenn der jahrelange Hauptkonkurrent Manchester City wieder so unbarmherzig punkten sollte wie in den meisten Jahren der Klopp-Ära.
Liverpools Saison wird nach der Meisterfeier nur noch austrudeln, für die Klub-WM im Sommer ist der Verein nicht qualifiziert. Viel Zeit zur Vorbereitung auf eine neue Spielzeit, in der schon wieder die Geschichte ruft. Seit 1984 hat Liverpool den Meistertitel nicht mehr verteidigen können.
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