Das 1:2 gegen Portugal zeigt Deutschlands Elf, dass ihr Fußball ohne Kampf und Leidenschaft nicht auskommt. Dabei hatte man sich spielerisch schon in höheren Sphären gewähnt. 

Julian Nagelsmann hatte sich alle Mühe gegeben, jenes höhere Wesen, das er wahlweise "Euphorie", "Spirit" oder "Flow" nennt, wieder zum Leben zu erwecken. Erneut hatte der Bundestrainer seine Mannschaft in Herzogenaurach versammelt, in dem Appartementdorf, das schon zu seligen EM-Zeiten die Heimstatt der deutschen Fußballer gewesen war. Denn hier, auf dem sogenannten "Homeground", war diese besondere Stimmung entstanden, die das DFB-Team bis ins Viertelfinale des Turniers tragen und – mindestens ebenso wichtig – mit den leidgeprüften deutschen Fans versöhnen sollte. 

Seit Mittwochabend, eine Stunde vor Mitternacht, weiß Nagelsmann, dass der Homeground von Herzogenaurach kein mythischer Ort werden wird, so wie es dies ein Dorf im Berner Oberland für die 54-er Weltmeister gewesen ist. Den "Geist von Spiez" hat zwar auch niemand je gesehen, wohl aber Fritz Walter, wie er den WM-Pokal in die Höhe reckt. Das genügt bis heute als Gottesbeweis. 

Deutschlands Team sucht nach seinem Wesenskern

Die Nationalmannschaft der Gegenwart hingegen bleibt weiter ohne Titel. Sie verlor in München das Halbfinale der Nations League mit 1:2 gegen Portugal und kann jetzt allenfalls Dritter werden. 

Die Enttäuschung darüber war Nagelmann anzuhören, als er unten im Stadion in der internationalen Pressekonferenz hockte. Die "Galligkeit" habe gefehlt, der "unbedingte Wille", das Spiel zu gewinnen, klagte er mit matter Stimme. Statt den Gegner aggressiv anzulaufen, habe man ihn lediglich "angetrabt". 

Sätze, wie man sie in ähnlicher Form an jedem Wochenende in vielen Bundesligastadien hört. Doch man würde Nagelsmann Unrecht tun, sie als Phrasen aus dem Sprachbaukasten eines Trainers abzuwerten. Denn das, was Nagelsmann vermisste, war ja Wesenskern seines Fußballs.

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Nach den Niederlagen im Herbst 2023 gegen die Türkei und Österreich hatte Nagelsmann sein Spielsystem radikal entschlackt. All das Akademisch-Verblasene hatte er vom Taktikbrett gewischt, und seither lässt er seine Mannschaft einen simplen und straff organisierten Offensivfußball spielen. 

Dieser Sturm- und Drangstil braucht viel Leidenschaft, denn er kostet Kraft, viel Kraft. Leidenschaft ist der Treibstoff des Nagelsmann-Fußballs. Fehlt der Treibstoff, das lehrt das Portugal-Spiel, ist die deutsche Nationalmannschaft nicht konkurrenzfähig. Jedenfalls nicht in jener Sphäre, in der sie sich seit der EM angekommen glaubt: in der Spitzenklasse des Kontinents.

Die Partie am Mittwoch hat gezeigt, dass das DFB-Team noch über keine Routinen verfügt, um einen Spielstand zu verwalten. Genau das hatte die Mannschaft aber versucht. Nach der 1:0-Führung durch Florian Wirtz (48.) schaltete sie auf einen Stand-by-Modus herunter und wurde von Portugal fortan vorgeführt. 

Nagelsmanns zweifelhafte Wechseltaktik

Nagelsmann hatte daran eine Mitschuld, denn seine Wechsel trugen sichtlich zur Verunsicherung bei. In der 60. Minute brachte er gleich drei neue Spieler auf einmal und elf Minuten später noch mal zwei. Das war zu viel Wandel in zu kurzer Zeit. Der frisch eingewechselte Robin Gosens (formal zwar Außenverteidiger, vom Temperament her aber Flügelstürmer) ließ sich in der 63. Minute von Francisco Conceicao überrennen, der mit einem Arjen-Robben-Gedenk-Move das 1:1 erzielte. Beim 2:1 durch Cristiano Ronaldo (68.) beging zwar Jonathan Tah einen Stellungsfehler; zuvor aber hatte der eingewechselte Serge Gnabry zu lasch verteidigt. Gnabry, so wirkte es am Mittwochabend, sieht sich als Künstler; von Fleißaufgaben möge man ihn bitte entbinden. 

Die Frage, die das Portugal-Spiel den Deutschen stellt, lautet: Wie konnte es zu einem solch rapiden Spannungsabfall kommen? 

Die Beteiligten wussten darauf keine schlüssige Antwort. Leon Goretzka sagte, eine 1:0-Führung gebe in der Regel Sicherheit; seltsamerweise sei das gegen Portugal nicht der Fall gewesen. Abwehrspieler Robin Koch stellte gar einen "kompletten Bruch" nach dem Führungstreffer fest, beließ es aber ebenfalls bei einer Symptombeschreibung, ohne Gründe nennen zu können. 

Die deutschen Fußballer, so scheint es, sind sich selbst ein Rätsel geworden.

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Wer die Spieler in den vergangenen Tagen in Herzogenaurach hatte reden hören, der gewann den Eindruck, dass das Final Four der Nations League eine Art Wiedergutmachung für das verlorene EM-Viertelfinale sein sollte. Am 5. Juli vergangenen Jahres hatten die Deutschen gegen Spanien verloren; durch ein Tor in der letzten Minute der Nachspielzeit. Zuvor war ein Handspiel von Marc Cucurella nicht geahndet worden – die Uefa räumt später ein, dass dies eine Fehlentscheidung gewesen sei. Stoff genug, um daraus eine Schicksalsgeschichte zu spinnen: Erst einen Elfer nicht bekommen und dann auch noch Pech gehabt mit einem Last-Minute-Gegentor. Eigentlich aber, so konnte man sich trösten, eigentlich befinden wir uns mit einer Klassemannschaft wie Spanien schon auf Augenhöhe. 

Diese Erzählung hat seit diesem Mittwochabend ihre Legitimation verloren. Nagelsmann räumte ein, wenn sein Matchplan auf dem Feld "nicht mit Leben gefüllt" werde, dann "kannst du auch gegen eine Drittliga-Mannschaft" verlieren. 

Der Bundestrainer, rhetorisch begabt wie nur wenige seiner Vorgänger, wird in den nächsten Tagen zur Hochform auflaufen müssen. Schon am Sonntag spielt man entweder gegen Frankreich oder Spanien um den dritten Platz. Nüchtern betrachtet, geht es für die Deutschen um nichts mehr. Und doch auch um alles: nämlich dieses flüchtige Gut namens "Euphorie", "Spirit" und "Flow" zurück ins eigene Spiel zu holen. 

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