Wie der 477-Tore-Mann aus Weidenhausen zur Legende wurde
Aktions-Shirts, Luftballons und Fan-Banner – was im Profisport Normalität ist, kommt in den Niederungen des Fußballs wie der Hessenliga kaum vor. Auch eine Kulisse von 850 Fans wie auf dem Sportplatz Chattenloh im nordhessischen Weidenhausen ist eher rar in der fünften Liga. Mit Einlaufkindern an der Hand betraten die Mannschaften des SV Adler Weidenhausen und des VfB Marburg den Rasen. Von den Zuschauerrängen schallten Sprechchöre zur Melodie des 1980er-Jahre-Hits „Give it Up“: „Sören Gonnermann, Gonnermann! Sören Gonnermann!“
Die Kulisse hatte ihre Berechtigung: Ein Ausnahmespieler und Idol des hessischen Amateurfußballs beendete seine Karriere – und brachte ein 700-Seelen-Dorf zum Kochen und Weinen. Sören Gonnermann (36) arbeitet als Landwirt und Schweinehalter auf dem elterlichen Hof. Für eine Kampagne für Landwirte posierte der blonde Stürmer 2016 mal mit einem Schwein auf dem Arm. Die Plakatbeschriftung: „Wer lässt am Wochenende die Sau raus? – Sören Gonnermann“. Es halten sich hartnäckig Gerüchte, dass er mitunter direkt vom heimischen Hof auf den Platz sprinten musste, um dann ohne Warmmachen den Anstoß auszuführen.
Sobald aber der Anpfiff ertönt, wird Gonnermann zu „SG9“ – ein Schriftzug, der auch auf den Shirts der Fans zu lesen ist. Die Organisatoren heben Gonnermann damit nicht ganz unbeabsichtigt auf eine Stufe mit Cristiano „CR7“ Ronaldo. „Er ist unser GOAT, unser ,Greatest of all Time‘“, sagt Mitorganisator Nico Beck.
„Spieler mit einer besonderen Güteklasse“
2007 kam der Torjäger mit seinem älteren Bruder Jan „zum Adler“, wie sie hier sagen. Fünf Jahre später komplettierte mit Tim Gonnermann der Jüngste im Bunde die Familienbande. Die beiden anderen Gonnermanns haben ihre Karriere bereits beendet, doch Sören ist ein anderes Kaliber. Seit 2007 spielte er bei keinem anderen Verein mehr – über 18 Jahre lang. Ehemalige Mitspieler wie der heutige Adler-Manager Stefan Stederoth erkannten schon früh Gonnermanns Ausnahmetalent: „Selbst in den ersten Einheiten hast du gesehen, dass das schon ein Spieler mit einer besonderen Güteklasse ist. Der war 18 Jahre jung, ruhig, bescheiden, aber verdammt gut.“
Die Bilanz seither ist beeindruckend: In 517 Spielen in Liga und Pokal traf Gonnermann 477-mal, hinzu kommen über 100 Vorlagen. In einem Ranking der besten Torjäger der vergangenen 25 Jahre befindet er sich nach Angaben des Portals Transfermarkt.de unter den Top 20, vor Superstars wie Kylian Mbappé oder Mo Salah – und als einziger Deutscher. Fünfmal beendete Adlers Nummer neun eine Saison in der Verbandsliga Hessen-Nord als Torschützenkönig. Auch im letzten Jahr seiner Karriere lieferte Gonnermann noch einmal richtig ab: 20 Tore in 34 Spielen bedeuten einen persönlichen Rekord für die Hessenliga, nach 12 und 13 Treffern in den Vorsaisons.
Angebote von Klubs mit großen Ambitionen gab es mehrere: Hessen Kassel klopfte an, Rot-Weiß Erfurt lud ihn zum Probetraining ein. Gonnermann lehnte alles ab. „Was sicherlich auch eine Rolle gespielt hat: Er war erst Auszubildender zum Landmaschinenmechaniker und hat dann auf dem elterlichen Hof mitgearbeitet. Das wäre nicht gegangen“, sagt Stefan Stederoth.
Um gegen höherklassige Teams zu spielen, musste Gonnermann auch gar nicht wechseln, solche Kaliber kamen im Pokal gelegentlich nach Weidenhausen. Und diese Reisen waren selten angenehm. Unvergessen ist in der Region die zweite Runde des Hessenpokals 2019, als der SV Adler den zwei Klassen höheren Regionalligaverein Hessen Kassel 4:1 abfertigte – Gonnermann erzielte alle vier Tore.
Für die Adler-Fans ist Gonnermann das, was man eine lebende Legende nennt. Nach einem 0:0 in der Partie gegen Marburg feierte ganz Weidenhausen den dritten Klassenverbleib in der Hessenliga – und trug seinen Ausnahmestürmer auf Händen in den Ruhestand. Dem scheidenden Stürmer ist der Hype um seine Person eher unangenehm: „Man hört immer mal dieses Wort ,Legende‘ und dass ich so genannt werde. Aber ich lege da keinen großen Wert drauf und lass das auch nicht so an mich rankommen. Denn je mehr man sich damit beschäftigt, umso größer wird auch der Druck.“
Was das Karriereende von „SG9“ für den Verein bedeutet, steht noch in den Sternen. Auch als Führungspersönlichkeit und Ruhepol war der Stürmer ein wichtiger Faktor. Manager Stederoth sagt: „Er ist immer ein top Typ gewesen, für den der Mannschaftserfolg über allem steht. Wir sollten trotz aller Wehmut einfach glücklich und dankbar sein, dass er über 18 Jahre bei uns Fußball gespielt hat, trotz der beruflichen Belastung.“
1000 Zuschauer im 700-Einwohner-Dorf
Der Etat des Vereins ist in der Hessenliga mit Abstand der kleinste, finanziell hat die Konkurrenz ganz andere Möglichkeiten. „Selbst unter den Verbandsligavereinen wären wir wohl im letzten Drittel“, betont Stederoth. Auch Neulinge wie der südhessische SV Hummetroth gehören durch die Unterstützung eines Millionärs direkt zu den finanzstärksten Teams.
Auf dem Papier kann Weidenhausen da nicht mithalten. Und doch schaffte der SV Adler das, was kaum jemand nach dem Aufstieg in die Hessenliga für möglich hielt. „Jeder hat gesagt, das wird ein Ein-Jahres-Abenteuer, dafür ist die Mannschaft viel zu grün, und der Verein bringt da nicht die Strukturen mit“, sagt Stederoth: „Jetzt haben wir das dritte Mal den Klassenverbleib geschafft.“
In einer Region, die nach höherklassigem Fußball lechzt, ist Weidenhausen längst ein Leuchtturm. Wer im Werra-Meißner-Landkreis guten Fußball sehen möchte, geht zum Adler. Das zeigen auch die Zahlen: Kein Team hatte in der vergangenen Saison in der Hessenliga durchschnittlich mehr Zuschauer. Nicht selten zieht es an Spieltagen bis zu 1000 Zuschauer in das 700-Einwohner-Dorf. Vor zwei Jahren platzte der Sportplatz Chattenloh mit fast 2800 Fans aus allen Nähten, als die zweite Mannschaft von Eintracht Frankfurt mit ihrem Co-Trainer Alex Meier anreiste. Damals quälte sich die Eintracht-Reserve zu einem 1:0.
Für die bodenständigen Realisten aus Weidenhausen ist auch wegen Gonnermanns Karriereende die Grenze des Machbaren erreicht: „Hessenliga ist für uns Maximum. Mehr ist für uns nicht möglich. Ob es überhaupt je wieder einen Verein aus dem Werra-Meißner-Kreis geben wird“, sagt Stederoth, „der dreimal die Klasse hält mit 90 Prozent Spielern aus der Gegend – das glaube ich nicht.“
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