Mit einem überlegt wilden Auftritt bringen die Boca Juniors den FC Bayern aus dem Konzept. Mindestens 55.000 Fans peitschen die Argentinier in Richtung einer historischen Revanche. Als die "Bestie" zubeißt, schlottern den Münchnern kurz die Knie.

Nach 18 Minuten ist die Magie von Miami weg - Harry Kane hat aus zehn Metern flach unten rechts verwandelt. Kaum jemand jubelt im blau-gelb dominierten Stadion. Der FC Bayern führt, hat die Emotionen auf den Rängen blitzartig kaltgestellt. Der Rekordmeister versucht in der Folge, in dieser historischen Partie gegen Boca Juniors, seinen Stiefel souverän herunterzuspielen - doch lässt sich ein ums andere Mal von den völlig unberechenbaren Argentiniern überrumpeln. Am Ende gewinnen die Bayern zwar souverän das zweite Vorrundenspiel 2:1 (zum Auftakt gab es ein 10:0 gegen Auckland) - aber die Argentinier haben den Favoriten in Verlegenheit gebracht.

Boca konnte aus seinen Möglichkeiten zu wenig machen, auch der "Jugador 12", der zwölfte Mann auf den Tribünen, war nicht genug. Bayern ist für das Achtelfinale der Klub-WM qualifiziert, Boca muss im letzten Spiel der Gruppe selbst so hoch wie möglich gegen Auckland City gewinnen und braucht die Schützenhilfe der Bayern.

Von den rund 63.000 Zuschauern in Miami waren geschätzt mindestens 55.000 Boca-Fans - und entsprechend laut. Die Stadt ist eine Art zweite Heimat für Argentinier, etwa 150.000 leben in und um Miami. Nur einzelne rote Sprenkler waren auf den Tribünen zu sehen, die Bayern-Anhänger kaum zu hören. Stattdessen peitschten die Argentinier ihr Team bei jeder Aktion nach vorne. Erst in der 84. Minute sah es wirklich danach aus, als sei die Luft raus bei Boca - als Münchens Flügelstar Michael Olise abgezockt ins lange Eck die erneute Führung erzielte.

Unentschieden erkämpfen? Schützenfest!

Dabei war die Stimmung vor der Partie hoffnungsfroh gewesen, dass doch mehr gehen könne in diesem Duell - ein Unentschieden? Ein Sieg sogar? "Goleada!", Schützenfest, prognostizierte mehr als ein Boca-Fan. Für die eigenen Farben, versteht sich. "Melden Sie unbändige Fans", mahnte ein Schild an einem Flutlichtpfahl der Parkplätze rund um das Stadion. Die Anhänger des 35-maligen argentinischen Meisters machten das auf ihre ganz eigene Weise, verwandelten die enormen Asphaltflächen in ein riesiges Grillfest, manche bauten Pavillons auf, reichten gekühltes Bier und versicherten sich ihrer guten Chancen, die Bayern schlagen zu können.

Knapp drei Minuten waren gespielt, da explodierte das Stadion in Miami das erste Mal. "Dale, dale Boca", schrie das Stadion der Startelf des FC Bayern in die Ohren, als der erste Blaugelbe sich zwischen drei Münchner Spielern hindurch gedribbelt hatte. Ja, hier geht doch was, riefen die Fans ihrer Mannschaft so zu, gegen diese "nach Perfektion strebenden Maschine". So hatte die argentinische Zeitung "La Nación" die Bayern beschrieben. Und nach dem aberkannten Tor der Münchner einige Minuten später - Bocas Mannschaft belagerte geradezu den Schiedsrichter bei der Ansicht der VAR-Bilder - wurde es wieder ohrenbetäubend laut.

Jeder Funken vom Platz entfachte ein Lauffeuer auf den Rängen. Was Boca an Struktur und Qualität vermissen ließ, machten sie auf andere Weise wett. Manchmal blieben Spieler lange liegen, einer blockierte einen Freistoß, die Boca-Bank ließ einen Ball kurzzeitig verschwinden. Für ein paar Minuten funktionierte das, die Bayern wussten mit dem Chaos nicht so recht umzugehen. In der 33. Minute kam auf einmal Kevin Zenón völlig frei zum Abschluss - aber Manuel Neuer riss die rechte Faust nach oben. Mit dem 0:1 ging es in die Pause.

Für die Argentinier ist die Klub-WM auch eine Neuverortung. In der heimischen Liga haben sie angesichts ihrer hohen Ansprüche unterirdische Jahre hinter sich. Ein Trainerwechsel, punktemäßig ein guter Saisonbeginn und der wilde Turnierauftakt mit dem Remis gegen Benfica Lissabon hat ein Pflänzchen der Hoffnung wachsen lassen. "Mit dem Messer zwischen den Zähnen" habe der legendäre Klub aus dem Hafenviertel von Buenos Aires gegen Lissabon gespielt, urteilte ein Fan-Podcast, ganz anders als in der heimischen Liga.

Verwundete Bayern

Die zweite Halbzeit begann, wie die erste aufhörte: Die Bayern kontrollierten das Spiel - doch kippte alles ganz plötzlich. Während in Europa die Top-Teams häufig nach Ballbesitzkriterien spielen und auf die Lücke warten, machte Boca wiederholt unerwartete Dinge, dribbelte, hielt den Ball, spielte ungewöhnliche Pässe. Und dann konterten die Argentinier über Mittelstürmer Miguel Merentiel alias "Die Bestie". Bis dahin war sie von Bayerns Innenverteidigung gezähmt worden, doch dann lief sie Jonathan Tah davon, umkurvte kinderleicht Josip Stanisic - und biss frei vor Neuer zu. Es war die 66. Minute, das Stadion explodierte. Boca bekam einen gigantischen Schub, der 12. Mann schrie, die Bayern waren verwundet.

War die historische Revanche möglich? Das einzige Pflichtspiel zwischen Bayern und Boca lag 24 Jahre zurück. Damit umwehte die Paarung der Wind historischer Duelle, als sich Boca auf Augenhöhe mit den größten Klubs der Welt sah. 2000 gewann der Klub, qualifiziert als Gewinner der Copa Libertadores, das südamerikanische Pendant der Champions League, den Weltpokal gegen Real Madrid. Im Mittelfeld zog der legendäre Juan Riquelme die Fäden, der inzwischen Klubpräsident ist. Ein Jahr später kam es zum Duell mit dem FC Bayern, der als Champions-League-Sieger nach Tokio reiste. Dort erzielte Abwehrmann Samuel Kuffour tief in der Verlängerung das entscheidende Tor.

Boca fuhr damals erhobenen Hauptes zurück an den Rio de la Plata. Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Champions League bewegt enorme Summen und Bayern hat die Meisterschaft fast schon abonniert. Regelmäßig fließen hohe Millionenbeträge nach Südamerika, um dort Spieler loszueisen. Ein aktuelles Beispiel ist der 17-jährige Franco Mastantuono von Bocas Erzrivalen River Plate, den Real Madrid für 45 Millionen Euro kaufte. Während in Deutschland die neue Klub-WM reichlich skeptisch beäugt wird, geht es den südamerikanischen Klubs darum, der Welt zu zeigen, dass sie trotz der finanziellen Übermacht der europäischen Ligen mithalten können. Zumindest dann, wenn sie das Herz auf dem Platz lassen.

Es ist nicht vorbei

Das honorierten vor der Partie auch die Akteure von damals. Rolando Schiavi, einer der Boca-Spieler des Duells von 2001, hatte nach dem Spiel gegen Benfica ein Foto von sich im Zweikampf mit Bayerns Giovane Elber veröffentlicht. "Boca hat nie Angst zu kämpfen", schrieb der Verteidiger, auch "El Flaco", der Schlaks, genannt. "Natürlich" würde er liebend gern auch heute gegen die Bayern antreten, sagte er auf eine entsprechende Frage augenzwinkernd, wenn nötig auch mit Blinddarmentzündung. Mit der hatte Schiavi einmal ein Copa-Libertadores-Spiel absolviert und war direkt danach ins Krankenhaus in den OP gefahren.

Nun, fast ein Vierteljahrhundert später, reicht Boca die Luft nicht für die 90 Minuten. Die Bayern sammeln sich, bauen geduldig Druck auf, während die Sitzschalen längst überflüssig geworden sind. Bocas Trainer wechselt Merentiel aus, möchte offenbar Beton anrühren. Doch Olise trifft. Es wird kurz still, aber dann feiern die Boca-Fans einfach weiter. Der Schiedsrichter gibt acht Minuten Nachspielzeit, aber es passiert nichts mehr. "Ich bin stolz auf die Mannschaft", sagt "die Bestie" danach, als die Fans noch stolz singen: "Wir wussten, dass wir uns aufopfern mussten." Die Magie ist nicht verschwunden.

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