Warum der Italien-Thriller fürs DFB-Team so wertvoll ist
Die deutsche U21-Auswahl steht nach einem 3:2-Sieg gegen Italien im EM-Halbfinale. Nach den fußballerisch guten Vorstellungen zuvor braucht es dieses Mal eine kämpferische Leistung für den Erfolg. Der Mannschaft könnte das die nötige Reife gebracht haben - wie der Blick auf andere Erfolgsgeschichten zeigt.
Die Erlösung bringt Merlin Röhl in der 117. Minute. Wieder einmal beißt sich die deutsche Mannschaft in einer dramatischen EM-Achterbahnfahrt am Strafraum der tapfer kämpfenden Italiener fest. Seit der 90. Minute und dem zweiten Platzverweis muss der Gegner der Deutschen mit zwei Mann weniger auf dem Feld auskommen. Über Paul Wanner gelangt der Ball zu Linksverteidiger Nathaniel Brown, der den Blick für den eingewechselten Röhl hat. Der Freiburger nimmt das kurze Eck des italienischen Tores ins Visier, schließt flach und platziert ab - und trifft. 3:2 für Deutschland. Als wenige Minuten später das Spiel vorbei ist, bricht großer Jubel auf der deutschen Bank aus. Das DFB-Team steht im Halbfinale!
Erstmals muss die deutsche Auswahl bei diesem Turnier einen Rückstand aufholen. "Ich hatte schon Angst, dass Italien das so gut verteidigt, dass es bis zum Ende an diesem Tor liegen kann. Aber jetzt haben wir das erlebt", sagt Di Salvo. Erstmals folgt mit dem Last-Minute-Ausgleich der Italiener zudem ein später Nackenschlag kurz vor dem bereits sicher geglaubten Sieg. "Es war ein Schock. Wir haben unnötig 30 Minuten mehr in den Knochen", ärgert sich der Trainer über den Ausgleich von Giuseppe Ambrosino in der sechsten Minute der Nachspielzeit. Er spüre eine "unglaubliche Erleichterung", so Di Salvo weiter. "Ich weiß nicht, wie viele Steine mir am Ende vom Herzen gefallen sind." Es ist auch ein Sieg des Willens, ein Erfolg für den Glauben an die eigenen Fähigkeiten. Es ist ein Etappengewinn, der deshalb auf dem Weg zum ersehnten Titel von entscheidender Bedeutung sein könnte.
Lange hat seine Mannschaft große Mühe mit den Italienern, die der deutschen Offensive bis zur doppelten Überzahl wenig Tormöglichkeiten lassen und selbst lange Zeit die gefährlicheren Torchancen haben. Nach dem Sieg zum Vorrundenabschluss gegen England (2:1) mit komplett ausgetauschter Mannschaft war die Startelf im Viertelfinale eigentlich regeneriert. Bringt das die Mannschaft aus dem Fluss? Mit drei Siegen aus drei Spielen (9:3 Tore) war Deutschland, die einzige Mannschaft mit dieser Punkteausbeute und inzwischen ohnehin der Favorit des Turniers. Ist die Bürde für das Team zu schwer?
Schwierige Turnierphasen waren wichtig für Erfolge
Die Deutschen seien eine Turniermannschaft, lautet lange Zeit eine beliebte Weisheit vieler Experten im In- und Ausland. Nach den beiden Horror-Weltmeisterschaften 2018 und 2022 bei den Herren mit zwei Vorrunden-Desastern ist diese vermeintliche Gewissheit längst überholt. Doch oft genug nutzten DFB-Teams in der Vergangenheit komplizierte Spiele als Durchlauferhitzer auf dem Weg zum Triumph.
1974 wird die Bundesrepublik zum zweiten Mal Weltmeister, noch dazu im eigenen Land. Franz Beckenbauer, Paul Breitner, Gerd Müller, Sepp Maier und viele mehr gehen durch den 2:1-Finalsieg gegen die Niederlande endgültig als goldene Generation in die Geschichtsbücher ein. Was in der Nachbetrachtung als mitentscheidender Wendepunkt des Turniers gilt: das schmachvolle 0:1 gegen die DDR in der ersten Gruppenphase des Turniers. Zuvor hatte es in der Mannschaft gebrodelt, die Stimmung im Team war miserabel. Schuld daran war unter anderem die Abschirmung im kasernenähnlichen Teamquartier im schleswig-holsteinischen Malente. Die Niederlage gegen den anderen deutschen Staat bewirkt, dass sich die Mannschaft ausspricht und zusammenrauft. Der "Geist von Malente" ebnet der Mannschaft den Weg über eine makellose zweite Gruppenphase zum WM-Titel.
1990 versprüht man im letzten Vorrundenspiel gegen Kolumbien keinen Glanz, lange sorgt man sich sogar ums Weiterkommen. Am Ende heißt es 1:1, das Unentschieden reicht zum Gruppensieg. Später darf Franz Beckenbauer weltmeisterlich über den Rasen des Römer Olympiastadions schlurfen. Auch 1996 liefern die späteren Europameister ein desaströses Vorrundenfinale, das 0:0 gegen Italien bringt vor allem dank eines überragenden Torwarts Andreas Köpke einen schmeichelhaften Punkt - und den Gruppensieg.
Kader kennt Niederschläge
Auch 2014, beim letzten großen Titelgewinn einer deutschen A-Nationalmannschaft, gibt es zwischenzeitlich eine schwierige Turnierphase. Einem berauschenden 4:0-Sieg zum Auftakt gegen Portugal folgt ein 2:2 gegen Ghana und ein 1:0-Arbeitssieg gegen die USA, ehe Deutschland im Achtelfinale haarscharf am frühen Ausscheiden vorbeischrammt. Gegen Algerien rettet ein überragender Manuel Neuer als Libero seine Mannschaft mehrfach vor dem Rückstand. Am Ende ringt Deutschland die Nordafrikaner ebenfalls in der Verlängerung mühsam nieder, mit 2:1. Der Rest ist bekannt, Mario Götze schießt das DFB-Team in einer magischen Nacht in Rio de Janeiro zum vierten WM-Titel.
Auch Teile der aktuellen U21 können bereits auf gemeinsame Dämpfer zurückblicken. Bei der Europameisterschaft 2023 in Rumänien und Georgien scheidet die Mannschaft nach einem Unentschieden gegen Israel und zwei Niederlagen gegen Tschechien und England als Gruppenletzter in der Vorrunde aus. Neben Trainer Di Salvo sind aus dem aktuellen Kader bereits Torwart Noah Atubolu, Eric Martel und Nelson Weiper dabei. Der Misserfolg dürfte sie antreiben, dieses Mal nicht zu scheitern.
Die Generation von 2025 will die Achterbahnfahrt gegen Italien nicht als Showstopper verstehen, sondern viel mehr als Turboboost für den Rest des Turniers nutzen. "Ich hoffe, dass wir den Drive und diese Emotion mitnehmen", sagt der unermüdlich ackernde Mönchengladbacher Rocco Reitz. Und der völlig platt ausgewechselte Kapitän Eric Martel freut sich über eine wichtige Erkenntnis für die Crunchtime des Turniers: "Egal, was uns passiert, wir können das immer abschütteln und noch einen draufsetzen."
Wird Nagelsmann zum Final-Ansporn?
Die nächste Hürde heißt am Mittwoch (21 Uhr) im Halbfinale Frankreich. Im Spiel gegen die Mannschaft um den Ex-Münchner Mathys Tel und Castello Lukeba von RB Leipzig gibt es keinen klaren Favoriten mehr. Im vergangenen November waren der Nachwuchs der "Équipe Tricolore" und die deutsche U21 letztmals aufeinandergetroffen. Es war das bislang letzte Spiel, das Deutschland nicht gewinnen konnte (2:2). Sollte die DFB-Auswahl den Einzug ins Finale schaffen, will Bundestrainer Julian Nagelsmann auf der Tribüne dabei sein. Beim Spiel gegen Italien war er nicht im Stadion, für Mittelfeldmann Reitz kein Problem. "Dass er hier sein muss, ist, glaube ich, nicht seine Pflicht", sagt der Gladbacher, "aber wenn er mal vorbeischaut, wird uns das natürlich freuen."
Für Nagelsmann potenziell interessante Spieler dürften neben Toptorjäger Nick Woltemade, Brajan Gruda und Reitz, die alle schon bei der A-Nationalelf nominiert wurden oder als Trainingsgäste dabei waren, naturgemäß Di Salvos Außenverteidiger sein. Einerseits spielen Brown und Nnamdi Collins ein gutes Turnier, andererseits gibt es auf diesen Positionen seit Jahren einen chronischen Mangel an Topleuten.
Doch bevor der A-Bundestrainer vor Ort ist, muss ein Sieg gegen Frankreich her. Für die Spieler wird es die nächste Gelegenheit sein, Erfahrungen in einem Turnier zu sammeln. Auch im Umgang mit möglichen Rückschlägen. Im besten Fall beweisen die Spieler erneut ihre Widerstandsfähigkeit und ziehen ins EM-Finale ein. Im schlechtesten Fall ist ein Scheitern wieder einmal der Startpunkt einer späteren Erfolgsgeschichte.
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