Argentiniens Rentner begehren auf
Präsident Milei hat Argentinien einen strikten Sparkurs verordnet. Betroffen davon sind auch Rentner, die sich die hohen Mieten nicht mehr leisten können. Ihre Wut tragen sie auf die Straße - die Polizei greift hart durch.
Nancy Yulan greift in ihren Jutebeutel, holt eine Gasmaske, dann eine Schutzbrille heraus, zieht beides über den grauen Lockenkopf. Den Fahrradhelm hat sie vergessen - wird schon gut gehen. "Schau mal, wie gefährlich wir Rentner sind - so müssen wir in Argentinien ausgerüstet sein, um auf die Straße zu gehen."
Damit ist sie bereit für die Demonstration. Jeder Mittwoch ist Kampftag für die 63-jährige Rentnerin in Buenos Aires. Seit Jugendjahren sei sie für linke Ideale zu Protesten gegangen, aber jetzt, unter dem libertären Präsidenten Javier Milei, erst recht. Der gebe ungeniert zu, dass er den Staat abschaffen will.
Der "Markt" sei aber gnadenlos mit den sozial Schwachen: "Die Leute haben Hunger, die Lebensbedingungen sind schlecht, viele haben kein Geld für Medikamente."

Mit Schutzbrille und Gasmaske ausgerüstet geht Nancy Yulan auf die Demo.
Bei vielen reicht die Rente nicht bis Monatsende
Allmählich sammeln sich ein paar hundert Rentner vor dem Kongress, viele kennen sich, seit Monaten kämpfen sie Seite an Seite. Was sie antreibt? Soziale Gerechtigkeit im Allgemeinen und für Rentner im Speziellen. Denn für viele reichen die Renten nach 40 Jahren Arbeitsleben nicht bis zum Ende des Monats.
Der Mindestrentensatz liegt bei umgerechnet etwa 240 Euro. Gleichzeitig ist Argentinien zum teuersten Land Südamerikas geworden. Ein Kaffee kann in Buenos Aires fünf Euro kosten, so teuer wie in New York.
Nancy sagt, sie habe durch die Inflation und den Wegfall der Subventionen etwa 40 Prozent Kaufkraft verloren. Um ihre Rente, die bei 650 Euro liegt, aufzubessern, bereitet sie Lunchpakete zu, die sie am Wochenende verkauft.

Angespannte Stimmung bei der Demo gegen die Rentenpolitik von Präsident Milei.
Wird die Demo friedlich oder gewalttätig?
Da der Mietmarkt liberalisiert wurde, rechnet sie damit, dass sie die nächste Mieterhöhung im Dezember nicht mehr durchhält und gezwungen ist umzuziehen. Dann müsse sie wieder von vorne anfangen.
Die Sonne scheint an diesem Wintermittwoch, die Stimmung aber ist angespannt. Denn unklar ist: Wird die Demonstration friedlich oder gewalttätig? Die Polizei ist unter Milei angehalten, hart durchzugreifen und Straßenblockaden zu verhindern.
Rentner, Polizisten und Journalisten - alle stellen sich auf Kampf ein. Es scheint, es fehlt nur der Funke, der zündet.
Brutales Vorgehen der Polizei
Tomas Cuesta ist freier Fotograf und hat das im Mai am eigenen Leib erfahren. Als er fotografiert, wie Polizisten einen Rentner abführen, wird er von ihnen hart zu Boden geworfen. Sein Kopf wird mit dem gepanzerten Knie des Polizisten auf den Asphalt gepresst.
Fotograf warnt vor gesellschaftlicher Verrohung
Vier Stunden hält ihn die Polizei fest, bis sie ihn freilässt. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei - Krawalle, verletzte Senioren und Journalisten - seit etwa Anfang des Jahres gehe das so. Und für Tomas ist das neu: "Es besorgt mich schon, wenn der Präsident sagt, 'wir hassen Journalisten noch nicht genug'."
Wer zeige, was dem Präsidenten nicht passe, gerät ins Visier, häufig von verbaler, manchmal von körperlicher Gewalt. Für Tomas ist das eine gesellschaftliche Verrohung, ein Spiel mit dem Feuer.
Die Demo beginnt, die Rentner machen sich auf den Weg zum Regierungspalast. Sie wollen sich einer Ärztedemo anschließen, die um höhere Löhne kämpft. Nancy läuft immer vorneweg, obwohl sie noch deutliche Schrammen im Gesicht hat, von einer Rangelei mit der Polizei vor ein paar Wochen.
Wieder und wieder will die Polizei die Demo stoppen. Die Rentner fluchen wütend und drängen. Die Polizei zückt die Knüppel und die Journalisten die Kameras. Es gibt Rangeleien, es wird geschubst und geschrien.
"Wenn du arbeitest, hast du Essen"
Einige Umstehende unterstützen die Rentner mit Applaus - aber es gibt auch Streit mit manchem, der zu Milei steht: "Geht arbeiten, verdammt noch mal. Wenn du arbeitest, hast du Essen."
Der Wahlerfolg von Milei 2023 war eindeutig und seine Wähler halten - trotz Schwankungen - weiter zu ihm. Die monatliche Inflation lag im Juni bei niedrigen 1,6 Prozent.
Die Armut ist 2024 von weit mehr als 50 Prozent auf 38 Prozent gesunken. Das Land sei auf dem richtigen Weg - so sehen das seine Unterstützer, auch wenn alle den Gürtel enger schnallen müssten.
Dass Rentner die Leidtragenden der Reformen sind, räumen aber viele ein. Als der Kongress Anfang August die Renten um 7,2 Prozent anheben wollte, legte Milei sein Veto ein.

Um ihre Rente aufzubessern, arbeitet Susanna Said einmal pro Woche als Uni-Dozentin.
Nur 500 Euro pro Monat
Susanna Said kann nicht mehr auf die Demo gehen. Die 78-Jährige ist schwer krank. Schlank ist sie, ein Seidenschal ziert den Hals, die Stimme ist etwas gequält von einer anhaltenden Erkältung.
Susanna hat etwa 500 Euro Rente. Und sie hat Krebs. Eine private Krankenversicherung konnte sie sich mal leisten.
Nun sind die Kosten von 100 auf 500 Euro geschossen. Dazu kommen die unzähligen Medikamente, die ebenfalls viel teurer geworden sind. "Als ältere Frau in Rente weiß ich einfach nicht, was ich tun soll. Ich kann meine Ausgaben nicht planen. Es macht mich wütend, so zu leben."
Ihre Welt schrumpfe. Kino, Theater, Bücher sind ein Luxus geworden. Ihre große Sorge ist ihre Unabhängigkeit. Sie will ihren Kindern nicht zur Last fallen.
Darum arbeitet sie einmal die Woche als Uni-Dozentin. Das macht ihr zwar Spaß, aber es kommt aus der Not heraus. "Es geht um meine Würde. Ich werde nicht akzeptieren, dass meine Kinder mir finanziell helfen müssen. Meine Rolle ist es, ihnen zu helfen."
Die Demonstration endet in der Hauptstadt ohne Krawalle - und doch bricht Nancy am Abend zusammen, muss ins Krankenhaus, ein Kreislaufkollaps. Zu wenig gegessen, zu hart die Anstrengung.
Diese und weitere Reportagen sehen Sie im Weltspiegel am Sonntag um 18.30 Uhr im Ersten.
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