Farages Sommer des Erfolgs
Nigel Farage beherrscht in diesem Sommer die Schlagzeilen mit populistischen Forderungen zur Migration. Seine Methode zieht: Vor dem heutigen Parteitag liegt seine Partei Reform UK in den Umfragen deutlich vorne.
Man könnte meinen, Nigel Farage sei schon Premierminister. Während das Labour-Kabinett und das Parlament in der Sommerpause ruhten, berief der Chef der Partei Reform UK wöchentliche Pressekonferenzen ein, um seine Migrationspolitik vorzustellen. Denn eine "Invasion junger Männer" breche illegal in das Land ein, eine "Geißel für das moderne Großbritannien".
Mit diesen populistischen Behauptungen trifft Farage offenbar einen Nerv. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zeigt: Obwohl die Mieten im Land unbezahlbar, der Gesundheitsdienst am Boden und die Infrastruktur vom Wasserversorger bis zu den Schienen kaputt sind, glauben viele Briten, dass kein anderes Thema so wichtig für das Land sei wie Migrations- und Asylpolitik.
Falsch eingeschätzte Verhältnisse
Die Umfragen zeigen auch: Wählerinnen und Wähler überschätzen die Zahlen. So glauben laut YouGov 47 Prozent der Befragten, in Großbritannien lebten mehr illegale Migranten - also Menschen, die ihr Visum überzogen oder nach einem abgelehnten Asylantrag das Land nicht verlassen haben - als legale Migranten. Tatsächlich liegt der Anteil nach offiziellen Schätzungen irgendwo zwischen 120.000 und 1,3 Millionen. Dem gegenüber stehen rund elf Millionen legale Migranten, die mit offizieller Erlaubnis in Großbritannien leben.
Auch die Zahl der Asylanträge ist in Großbritannien niedriger als in den europäischen Nachbarländern. Doch UK Reform lässt solche Fakten unter den Tisch fallen. Farages Parteikollege Zia Youssef verglich bei einer Rede lieber erneut Einwanderung mit einer militärischen Operation: "Mehr Menschen sind in den vergangenen acht Jahren illegal an britischen Stränden angekommen, als sie im Zweiten Weltkrieg die Strände der Normandie gestürmt haben."
Die Medien schaffen eine Stimmung
Tim Bale, Politikwissenschaftler an der Londoner Queen Mary Universität, macht für die Informationsschieflage auch die britischen Medien verantwortlich: "Rundfunkanstalten orientieren sich an den Printmedien. Doch die Zeitungen in diesem Land sind in einem Maße, wie man es sich in anderen Ländern vielleicht kaum vorstellen kann, überwiegend rechtsgerichtet und gegen Einwanderung."
Das heißt: Es wird auf allen Kanälen über die Schattenseiten von Flucht und Migration berichtet - das Leib- und Magenthema von Reform UK. Kein anderer Politiker dominierte in diesem Sommer die Schlagzeilen wie Nigel Farage, etwa mit Aufrufen zu Protesten vor Flüchtlingsunterkünften oder dem Vorschlag eines Rückführungsabkommens mit den Taliban. Der Einsatz spiegelt sich in den Umfragen wider. Seit Beginn des Jahres führen die Rechtspopulisten. Derzeit liegen sie bei knapp 30 Prozent, rund zehn Prozentpunkte vor Labour. Besser hätte der Sommer für Reform UK nicht laufen können.
Labour und Tories schwächeln
Doch ihren Höhenflug hat die Partei auch dem Sinkflug der beiden großen Traditionsparteien, Labour und den Tories, zu verdanken. "Die historisch beispiellose Kombination aus einer neuen, äußerst unbeliebten Regierung und einer kürzlich abgewählten, äußerst unbeliebten Opposition, hat Reform UK die große Chance gegeben, sich zum wichtigsten Sprachrohr für die Unzufriedenheit zu entwickeln", sagt Politikwissenschafter Robert Ford von der Universität Manchester.
Schon bei der letzten Parlamentswahl vor etwas mehr als einem Jahr verhinderte nur das komplexe britische Wahlsystem, dass Reform UK Parlament drittstärkste Kraft wurde. Die Stimmen dafür hätten sie gehabt, so groß war der Unmut über 14 Jahre konservative Sparpolitik und Skandale. 42 Prozent der neuen Anhänger von Reform sind ehemalige konservative Wähler, 33 Prozent waren zuletzt Nichtwähler. Längst hat Reform UK Großbritanniens älteste und lange Zeit erfolgreichste Partei als offizielle Opposition abgelöst.
Wenig Wandel unter Starmer
Und nun kommt auch noch Frust über Labour hinzu, die mit dem Versprechen von "Change", also von Wandel, angetreten waren. Denn Veränderung ist im Alltag bislang wenig zu spüren. Bei den Kommunalwahlen im Mai sahnte Reform UK entsprechend ab und gewann 677 Sitze in regionalen Volksvertretungen und Ämtern - auch in traditionellen Labour-Hochburgen.
Wollte Labour nun zu Reform aufschließen, müsste sie versuchen, vor allem die Mitte-Links-Wähler anzusprechen. Denn an die Grünen und Liberaldemokraten hat Labour laut der British Election Study die meisten Stimmen verloren - und an die Unentschlossenen. Doch stattdessen mäandern die Sozialdemokraten oder biedern sich mit Law-and Order-Schnellschüssen, wie dem Aussetzen des Familiennachzugs etwa, bei rechten Wählern an - obwohl diese statistisch vor allem zu Reform wechseln.
Karl Pike, Experte für die Labour-Partei sagt: "Wenn Keir Starmer für etwas bekannt ist, dann für seine Vorsicht und den Versuch, die Wählerunterstützung so breit wie möglich zu halten. In der Opposition heißt das: keine Risiken einzugehen, manchmal nicht viel zu sagen und ein wenig zweideutig zu bleiben. In der Regierung kann man sich das aber nicht erlauben. Man muss Entscheidungen treffen."
Und während der als "Mr. Boring" bekannte Starmer mit Richtungsvorgaben zaudert, drängt sich Reform-Chef Farage ins Rampenlicht, sei es auf Tiktok - wo er mehr Follower als alle Parlamentsabgeordneten zusammen hat - oder bei selbst einberufenen, wöchentlichen Pressekonferenzen.
Simple Rezepte
Dazu klingen die Lösungen der Rechtspopulisten für irreguläre Migration auch noch verlockend simpel: Massendeportationen, fünf Abschiebeflüge am Tag, riesige Abschiebezentren, sämtliche Datenregister sollen zusammengefügt werden, um illegal in Großbritannien lebenden Menschen aufzuspüren.
Das ist zwar mit derzeitigen rechtsstaatlichen Prinzipien nicht vereinbar. Doch auch darauf hat Reform UK eine Antwort: Das Vereinigte Königreich solle einfach aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und der UN-Flüchtlingskonvention aussteigen. Experten sind sich einig: Dies sei zwar möglich, aber hochkomplex und langwierig.
Um sich also tatsächlich von einer bloßen Protest- zu einer erfolgreichen Regierungspartei zu entwickeln, müsste Reform UK eine glaubwürdige Agenda erarbeiten, meint Robert Ford: "Das Parteiprogramm aus dem letzten Jahr war absolut unglaubwürdig. Die Zahlen gingen nicht auf, die Vorstellungen waren größtenteils nicht realisierbar. Selbst Farage distanzierte sich von dem Programm und sagte, es handele sich eher um eine Reihe von Wunschvorstellungen." Auch wenn Ford hinzufügt: Den Kernwählern - sozial konservativen älteren Männern - sei das wohl egal.
Volatile Lage
Doch die anderen dürften, wenn es um die Unterhauswahlen geht, so ihre Zweifel haben, glaubt Politikwissenschaftler Bale: "Wenn es ums Ganze geht, hinterfragen viele Briten, ob Reform UK tatsächlich über die Stärke, die Tiefe oder den richtigen Parteichef verfügt, um dieses Land zu führen."
In den kommenden vier Jahren kann noch viel passieren, so volatil ist die britische Politik gerade. Möglich, dass die Konservativen mit einem neuen Parteichef wieder aus der Bedeutungslosigkeit auferstehen könnten, möglich, dass Reform ihre Großspender aus dem Ausland, denen einige Medien Verbindungen zu Steueroasen nachsagen, noch um die Ohren fliegen oder die politische Linke doch strategisch Labour wählt. Alles sei noch denkbar, meint Robert Ford, zehn Sitze im Unterhaus oder 350.
Doch der selbstbewusste Farage gibt sich weiter staatsmännisch. Beim Parteitag in Birmingham dürfte Reform UK vor allem sich selbst und ihren Erfolgssommer feiern.
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