Strahlende Zukunft? Kasachen setzen auf Atomkraft
Seit August laufen in Kasachstan die Bauarbeiten für das erste AKW des Landes - unter Federführung des russischen Konzerns Rosatom. Viele Menschen in der Region erhoffen sich eine gute Stromversorgung und sichere Arbeitsplätze.
Staub fegt durch die leeren Straßen. Auf dem Spielplatz rosten Schaukeln und Wippen, kein Kind weit und breit. Die oberen Stockwerke der Plattenbauten sind unbewohnt, manche Fensterscheiben zersplittert. Ulken, im Süden von Kasachstan, gleicht einer Geisterstadt.
Zu Sowjetzeiten wurde die Stadt für etwa 10.000 Menschen geplant, heute sind im Bürgermeisteramt gerade noch 1.700 Einwohner gemeldet. Nun soll hier allerdings das größte Bauprojekt in der Geschichte Kasachstans entstehen, sagt der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew: das erste Atomkraftwerk im unabhängigen Kasachstan.

Die ersten Bohrungen haben begonnen: Der russische Staatskonzern Rosatom leitet die Bauarbeiten an dem Kernkraftwerk.
AKW als Arbeitgeber
Ingenieure des russischen Staatskonzerns Rosatom haben Anfang August mit den ersten Arbeiten in Ulken begonnen. Viele der Menschen, die hier noch leben, unterstützen das Projekt. Sie erhoffen sich mehr Strom für Kasachstan und vor allem: ein besseres Leben in Ulken.
So denkt auch Kanat, der sich gerade im Schatten eines leeren Plattenbaus eine Zigarette angezündet hat: "Zurzeit gibt es viele Arbeitslose hier. Wenn das Kernkraftwerk eröffnet wird, können wir dort arbeiten, als Wachleute oder Fahrer."
Kasachstan ist der weltweit größte Produzent von Uran, das man zum Betrieb von Atomreaktoren braucht. Jetzt will der Staat es endlich nutzen, um den Strommangel zu beheben.

Ulken gleicht einer Geisterstadt. Noch. Die Menschen hoffen, dass die Gegend mit dem im Bau befindlichen AKW attraktiver wird.
Kasachstans düstere nukleare Vergangenheit
Dass die Führung des Landes solange gezögert hat, liegt vielleicht auch an einem traumatischen Kapitel, das aufgeschlagen wurde, als das Land noch Teil der Sowjetunion war: Kasachstans düstere Nuklear-Vergangenheit. Von 1949 an zündeten Forscher und Militärs der Sowjetunion auf einem Testgelände im Nordosten der damaligen Teilrepublik mehr als 450 Atomsprengsätze.
Atompilze, die in die Luft steigen, sind noch auf alten Archivbildern zu sehen: Uran-, Plutonium und Wasserstoff - über, auf und unter der Erde. Eine Schlagkraft von 2.500 Hiroshima-Bomben. Erst im Jahr 1989 wurden die Tests gestoppt.
Einstiges Atomwaffentestgelände bis heute verstrahlt
Bis heute sind viele Flächen auf dem Testgelände, das ungefähr so groß ist wie das Bundesland Sachsen, nuklear verseucht. Aber: Radioaktivität ist nicht zu sehen und nicht zu schmecken - und oft weisen nicht einmal Schilder darauf hin, dass die Strahlung noch hoch ist.
Der Wissenschaftler Dimitrij Kalmykow erforscht seit Jahrzehnten das ehemalige Kernwaffentestgelände. Die Explosionen, sagt er, dauerten nur Bruchteile einer Sekunde, die Folgen jedoch bleiben für die Ewigkeit: "Diese Region wird für immer radioaktiv bleiben. Zumindest zu menschlicher Lebenszeit." Viele Tausende und Zehntausende von Jahren würden vergehen, bis hier der Boden nicht mehr verseucht ist.
Kalmykow führt zu einem ganz besonderen See, den die Sowjets in den 60er-Jahren geschaffen haben, indem sie per Knopfdruck eine Atombombe gezündet haben: "Ein 160 Meter tiefes Loch wurde hier senkrecht gebohrt. Und darin wurde dann eine Atombombe von der Größe einer Waschmaschine abgefeuert."

Per Knopfdruck wurde in den 60ern hier eine Atombombe gezündet. Dadurch entstand dieser See.
Atomexplosionen für die Volkswirtschaft
Nutzen kann man das Wasser hier nicht, alles ist verstrahlt. "Atomexplosionen für die Volkswirtschaft" - so hieß das Programm damals. Dass solche Tests durchgeführt wurden, war kein Geheimnis, im Gegenteil: Sie waren Teil der Propaganda im Kalten Krieg.
Aber niemand sollte wissen, wo genau getestet wurde. Die Menschen, die in der Nähe des Testgeländes wohnten, wurden deshalb einfach nicht über die Folgen der Atomtests informiert. Manche haben die Gegend nie verlassen.
"Dieses Testgelände hat uns viel Schaden zugefügt"
Auch Familie Esmagomedow ist geblieben. Sie feiern gerade den Geburtstag von Großvater Nursljam, der 69 Jahre alt geworden ist. Ein hohes Alter im Dorf Sarjal.
Die meisten Schulfreunde sind schon tot: "Dieses Testgelände hat uns viel Schaden zugefügt. Es gibt hier sehr viele Krebskranke", erzählt Nursljam. "Auch gab und gibt es viele Selbstmorde, Leute erhängen sich. Und jetzt werden auch sehr viele behinderte Kinder geboren. Aber niemand spricht darüber, man verschweigt es. Es gibt sehr viele solcher Kinder hier."
Die Forschungslage zu den Spätfolgen ist bis heute dünn: Hohe Sterbe- und Krebsraten sind allerdings wissenschaftlich belegt. Internationale Kommissionen stellten zudem fest, dass überdurchschnittlich viele Menschen an Depressionen leiden oder Lungen- und Nierenschäden aufweisen.

Nursljam Esmagomedow lebt bis heute in der Nähe des alten Atomwaffentestgeländes und beklagt, dass in der Gegend viele an Krebs litten.
Kasachstans nukleare Zukunft
Im Nationalen Nuklearzentrum, ganz in der Nähe des Testgeländes, halten die Wissenschaftler die Atomkraft trotz alldem für die Schlüsseltechnologie der Zukunft.
Irbulat Kojanbajew ist stellvertretender Generaldirektor des Nationalen Nuklearzentrums: "Wir alle wissen, dass Kasachstan bei der Uranförderung an erster Stelle steht. Angesichts dieser Brennstoffreserven wäre es wirklich sinnlos, sie nicht zu nutzen."
Außerdem wolle auch Kasachstan zur Bekämpfung des Klimawandels etwas beitragen: Der Atomstrom, so Kojanbajew, sei eine umweltfreundliche Methode zur Strom- und Energieerzeugung.
Mehr Strom für das Land und eine Energiewende für das moderne Kasachstan - dafür haben rund 70 Prozent der Menschen im Land bei einem Referendum im letzten Jahr gestimmt. Auch wenn es Vorwürfe gibt, dass manipuliert wurde, gab Rahima Kairbekowa ihre Stimme für das Atomkraftwerk ab.
Die Rentnerin hat früher als Ingenieurin gearbeitet und hofft, dass sie eines noch erleben wird: Von ihrem Balkon in Ulken auf das AKW schauen zu können. "Wir wollen kein rückständiges Land sein, wir wollen nicht in Jurten hausen, wir wollen in einer zivilisierten Welt leben." Das wünsche sie sich vor allem für die zukünftige Generation: "Mit Strom, so reichlich wie die Sonne scheint."
Auf eine strahlende Zukunft also? In zehn bis 15 Jahren, so hofft man, ist das Atomkraftwerk in Ulken betriebsfertig.
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