Estland beantragt Artikel-4-Beratungen der NATO
Russische Jets im estnischen Luftraum: Diesen Vorfall will Estland innerhalb der NATO aufarbeiten und beantragt Beratungen nach Artikel 4. Zuletzt hatte Polen solche Gespräche eingefordert. Russland dementierte den Vorfall.
Estland beantragt Beratungen nach Artikel 4 des NATO-Vertrages. Grund ist eine Luftraumverletzung durch Russland, wie der estnische Ministerpräsident Kristen Michal auf X mitteilte. Die NATO kündigte an, dass sich die Mitgliedsländer Anfang kommender Woche mit dem Vorfall beschäftigen werden.
In der Geschichte des Verteidigungsbündnisses sind die Mitglieder bisher achtmal aufgrund dieses Artikels zusammengekommen. Zuletzt vergangene Woche auf Bestreben von Polen. Davor fand die letzte Beratung am 24. Februar 2022 statt, dem Tag der russischen Invasion in der Ukraine.
Artikel 4 des NATO-Vertrags In Artikel 4 des Nordatlantikvertrages heißt es: "Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind." Auf der Sitzung des NATO-Rats muss das Thema besprochen werden - das kann zu gemeinsamen Beschlüssen oder Maßnahmen führen, muss aber nicht.Der Artikel wurde seit Gründung des Bündnisses 1949 acht Mal in Anspruch genommen - zuletzt Mitte September von Polen nach dem Eindringen russischer Drohnen in den Luftraum. Zuvor hatte der NATO-Rat am 24. Februar 2022 beraten, dem Tag der russischen Invasion in der Ukraine.
Der mögliche Anwendungsbereich von Artikel 4 ist weniger klar als das in Artikel 5 des Bündnisvertrags fixierte Beistandsversprechen für den Fall eines "bewaffneten Angriffs" auf ein oder mehrere NATO-Länder. Nach Artikel 5 des NATO-Vertrages wird ein Angriff auf einen Verbündeten als Angriff auf alle Bündnispartner betrachtet. Das Beistandsversprechen sieht vor, dass alle NATO-Staaten zur Verteidigung des angegriffenen Landes beitragen. Dieser Fall trat bisher erst ein Mal ein: nach den Anschlägen am 11. September 2001 in den USA.
Russische Kampfflugzeuge im estnischen Luftraum
Russland hatte zum wiederholten Mal den Luftraum eines NATO-Mitgliedslandes verletzt. Drei Kampfjets drangen über den Finnischen Meerbusen in den Luftraum von Estland ein, wie das dortige Außenministerium mitteilte.
Die Maschinen vom Typ MIG-31 hielten sich demnach für zwölf Minuten dort auf. Die Flugzeuge hätten keine Flugpläne übermittelt, ihre elektronische Kennung ausgeschaltet und auch keinen Funkkontakt mit der estnischen Flugsicherung gehalten. Die NATO habe "umgehend" auf die russische Lufraumverletzung reagiert, erklärte Sprecherin Allison Hart im Onlinedienst X.
F-35-Flugzeuge des NATO-Partners Italien stiegen als Reaktion auf. Sie sind als Teil der "Baltic Air Policing Mission" in der Region stationiert. Weil die an Russland grenzenden Länder Estland, Lettland und Litauen keine eigenen Kampfjets besitzen, sichern die NATO-Verbündeten den baltischen Luftraum.
Die NATO sprach von einem "weiteren Beispiel für das rücksichtslose Verhalten Russlands und die Fähigkeit der NATO, darauf zu reagieren".
Russland bestreitet Zwischenfall
Erst am späten Abend äußerte sich Russland. Das Verteidigungsministerium bestritt dabei die estnische Darstellung: "Der Flug wurde unter strikter Einhaltung der internationalen Luftraumregeln durchgeführt, ohne die Grenzen anderer Staaten zu verletzen", hieß es. Während des Fluges seien die MiG-31-Jets nicht von der abgesprochenen Flugroute abgewichen. Vielmehr habe die Route über neutrale Gewässer mehr als drei Kilometer nördlich der estnischen Ostsee-Insel Vaindloo geführt.

Carlo Masala, Politikwissenschaftler, Universität der Bundeswehr München, zur Luftraumverletzung durch russische Kampfjets
tagesschau24, 20.09.2025 10:00 UhrEstnischer Außenminister fordert mehr Druck auf Russland
Das estnische Außenamt bestellte einer Mitteilung zufolge den Geschäftsträger der russischen Botschaft ein und überreichte eine Protestnote.
"Russland hat in diesem Jahr viermal den estnischen Luftraum verletzt, was an sich schon inakzeptabel ist. Doch die heutige Verletzung, bei der drei Kampfjets in unseren Luftraum eingedrungen sind, ist beispiellos dreist", teilte Außenminister Margus Tsahkna mit. "Auf Russlands zunehmende Erprobung der Grenzen und seine Aggressivität muss mit einer raschen Verschärfung des politischen und wirtschaftlichen Drucks reagiert werden", forderte der Minister.

Kallas spricht von "gefährlicher Provokation"
Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas nannte den Vorfall eine "extrem gefährliche Provokation". Sie verwies darauf, dass es die dritte Verletzung des EU-Luftraums innerhalb weniger Tage gewesen sei und dies die Spannungen in der Region weiter verschärfe. "Wir werden unsere Mitgliedstaaten weiterhin dabei unterstützen, ihre Verteidigung mit europäischen Mitteln zu stärken", schrieb sie bei X. "Putin stellt die Entschlossenheit des Westens auf die Probe. Wir dürfen keine Schwäche zeigen."
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen kündigte weiteren Druck auf Russland an. Europa stehe fest an der Seite Estlands. "Wir werden auf jede Provokation entschlossen reagieren und in eine stärkere Ostflanke investieren", teilte sie mit. "Mit der Eskalation der Bedrohungen wird auch unser Druck steigen." Die NATO hatte als Reaktion auf die mutmaßlich vorsätzlichen Luftraumverletzungen bereits eine Stärkung der Ostflanke angekündigt.
Wadephul nennt Vorfall "inakzeptabel"
Deutschlands Außenminister Johann Wadephul nannte das Eindringen russischer Kampfjets in den estnischen Luftraum "inakzeptabel". "Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit", schrieb der CDU-Politiker auf der Plattform X.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete den Vorfall in Estland als empörend. "Das sind keine Zufälle. Es handelt sich um eine systematische russische Kampagne gegen Europa, gegen die NATO, gegen den Westen", teilte er auf der Plattform X mit. "Und das erfordert eine systematische Reaktion." Es müssten entschlossene Maßnahmen ergriffen werden - sowohl gemeinsam als auch einzeln von jeder Nation.
Polen meldet weiteren Zwischenfall
Neben dem Vorfall in Estland drangen zwei russische Kampfflugzeuge nach Angaben des polnischen Grenzschutzes in die Sicherheitszone einer Bohrplattform in der Ostsee ein. Die polnischen Streitkräfte seien informiert worden, teilte die Behörde auf X mit. Die Jets seien im Tiefflug über die Bohrplattform Petrobaltic geflogen. Dabei sei die Sicherheitszone der Plattform verletzt worden.
"Die polnischen Streitkräfte und andere Dienste wurden benachrichtigt. Zur Verletzung der Staatsgrenze kam es nicht, sagte eine Sprecherin der Behörde dem Sender TVN24. Die Öl-Plattform, die dem polnischen Konzern Orlen Petrobaltic gehört, befindet sich in der polnischen Wirtschaftszone der Ostsee, etwa 70 km nördlich von Jastarnia.
Julia Wäschenbach, ARD Stockholm, tagesschau, 20.09.2025 05:56 UhrHaftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke