Die Suche nach Wegen aus der Sinnkrise
15 Monate nach ihrem klaren Wahlsieg herrscht in der britischen Labour-Partei Krisenstimmung. Premier Starmers Politik bekommt Druck von rechts wie links. Auf ihrem Parteitag sucht sie nun Wege aus Sinnkrise und Umfragetief.
Jeden Sonntag um 6 Uhr morgens beginnt auf einer großen Asphaltfläche in der nordenglischen Kleinstadt Bootle der Flohmarkt. Viele derer, die als Verkäufer oder Käufer herkommen, leben in den anliegenden Hochhäusern, in denen es viele Sozialwohnungen gibt.
Der Handel mit den gebrauchten Waren sei für viele Menschen in Bootle wichtig, um ein bisschen dazu zu verdienen oder Alltagsgegenstände günstiger zu finden, erklärt Flohmarkt-Leiter Dave Axbridge. "Jeder hier versucht, irgendwie über die Runden zu kommen, und das wird immer schwieriger."

Der Flohmarkt in Bootle. Selbst hier im Kernland von Labour fühlen viele Menschen ihre Interessen nicht mehr von der Partei vertreten.
"Ich dachte, Labour wäre unser Retter"
Die Stadt Bootle, nördlich von Liverpool, gilt als Kernland der sozialdemokratischen Labour-Partei. Seit 1945 haben die Wählerinnen und Wähler hier ununterbrochen einen Labour-Abgeordneten ins britische Unterhaus geschickt. Als Labour im Juli 2024 nach zwölf Jahren die Konservativen an der britischen Regierung ablöste, gewann die Partei in Bootle knapp 69 Prozent der Stimmen.
Doch jetzt, nur 15 Monate später, herrschen Ernüchterung und Enttäuschung. "Ich dachte, Labour wäre unser Retter", sagt Glen Jackson, der aus mehreren großen Beuteln heraus unter anderem Nostalgie-Werbeschilder verkauft. "Es kam anders. Ich musste erkennen: Mit ihrer Politik verletzen sie sogar normale Menschen wie uns."

Parteitag in Liverpool: Britischer Premier Starmer innenpolitisch unter Druck
Mareike Aden, ARD London, tagesthemen, 28.09.2025 22:45 UhrAn einem anderen Stand steht Jackie Cooney zusammen mit ihrem Ehemann. "Meine Eltern sind über 80 Jahre alt, und ihnen wurde der Heizkostenzuschuss gestrichen. Das ist ekelhaft." Um den Staatshaushalt zu entlasten, strich die Regierung von Premierminister Keir Starmer in der Tat als eine der ersten Amtshandlungen Fördergelder für Heizkosten. Nach monatelangem Streit und viel Empörung soll ein Großteil der Rentner nun doch weiter Hilfen erhalten.
Aber für Cooney ist das Maß voll. "Das ist nicht mehr die Labour-Partei, die für uns da ist. Und Starmer mag ich nicht mehr", sagt sie. Mehr will sie nicht sagen. Auch Flohmarkt-Leiter Axbridge sieht Labour in der Krise. "Manchmal habe ich aber auch Mitleid mit Starmer. Er hat international alle Hände voll, auch mit Putin. Aber die Öffentlichkeit hat mit Labour sehr wenig Geduld."
Das Umfragetief und seine Gründe
Etwa 15 Kilometer entfernt, in einem Konferenzzentrum in Liverpool, sucht Labour in diesen Tagen auf dem Parteitag nach Wegen aus der Sinnkrise - und aus dem Umfragetief. Mittlerweile liegt Labour hinter der rechtspopulistischen Partei Reform UK von Nigel Farage. In Umfragen, wer der bessere Premierminister wäre, liegen Starmer und Farage derzeit gleichauf. Obwohl Labour noch bis 2029 Zeit hat, die nächste Wahl anzusetzen, sorgen solche Zahlen in der Partei für große Aufregung.
Der Kern vieler Probleme, die Labour und Starmer haben: Das Wirtschaftswachstum, das helfen sollte, den versprochenen Wandel zu finanzieren, blieb aus. Dabei hatte Labour Wachstum versprochen und weitere Steuererhöhungen für "working people", wie sie es nennen, früh ausgeschlossen.
Zuletzt befand Starmer sich innenpolitisch im Dauerkrisenmodus - und das zum großen Teil selbstverschuldet: Trotz der klaren Mehrheit gelang es ihm vor einigen Monaten nicht, geplante Kürzungen bei Sozialausgaben durchs Parlament zu bringen.
Auch bei gleich zwei wichtigen Personalentscheidungen sah der Premier schwach und unentschlossen aus: Kurz vor dem Staatsbesuch von US-Präsident Donald Trump musste er den britischen Botschafter in den USA, Peter Mandelson, entlassen, weil Details seiner engen Verbindungen zum verurteilten Sexualstraftäter Jeffrey Epstein öffentlich wurden. Außerdem musste die bisherige stellvertretende Premierministerin, Angela Rayner, wegen Versäumnissen bei Steuerzahlungen zurücktreten. Beiden hatte Starmer noch kurz vor ihrem Amtsverlust den Rücken gestärkt.
"Von links und rechts unter Druck"
Ein weiteres großes Problem für Labour ist die illegale Einwanderung aus Frankreich über den Ärmelkanal. Seit Anfang des Jahres gelangten rund 30.000 Menschen mit kleinen Boten nach Großbritannien. Der Rechtspopulist Farage schaffte es im Laufe des Sommers, mit fast wöchentlichen Pressekonferenzen das Thema Asyl und Abschiebungen ganz oben auf die Agenda und in das Bewusstsein der Briten zu schieben. Unter dem Druck seiner Partei Reform UK ist auch Labour nach rechts gerückt und verschärft die Einwanderungs- und Asylpolitik.
Das wiederum sorgt bei der eher linken Parteibasis von Labour für Kritik und Unmut. Erst im August hatte sich eine Labour-interne Gruppierung mit dem Namen "Mainstream" gegründet, die von der Parteispitze unter anderem eine Rückbesinnung auf soziale Themen wie Kinderarmut fordert. "Wir brauchen auch eine humane Einwanderungspolitik", sagt Labour-Mitglied Luke Hurst, der als Koordinator eine führende Rolle bei "Mainstream" spielt. "Und die Parteispitze muss uns wieder mehr zuhören. Im Moment wird jede Art von parteiinterner Diskussion unterbunden und mit Rauswurf gedroht."
"Starmer verliert die Kontrolle - wohl kein Premierminister war so früh in seiner Amtszeit so unbeliebt", sagt Kitty Donaldson, politische Chefkommentatorin des Onlinemediums The i-Paper. "Auch einige Labour-Abgeordnete sagen ziemlich unhöfliche Dinge über Starmer, vor allem wenn sie ein paar Gläser getrunken habe." Er stehe von rechts und links unter Druck, sein Spielraum werde immer kleiner.
Parteiinterne Konkurrenz für Starmer?
Starmer selbst appellierte zum Auftakt des Parteitages in einem BBC-Interview an seine Partei: Statt um sich selbst zu kreisen und Nabelschau zu betreiben, müsse Labour den Kampf gegen Reform UK gewinnen. "Dies ist ein Kampf darum, wer wir als Land sind. Es geht um die Seele unserer Zukunft - das wird Folgen für Generationen haben."
Auf der Hauptbühne der Parteikonferenz bekam Starmer bei der Eröffnung viel Applaus, aber hinter den Kulissen spekuliert so mancher Labour-Kollege schon darüber, wer ihn ersetzen könnte. Im Mittelpunkt dieser Debatte steht Andy Burnham, der Bürgermeister von Manchester, der vor allem bei der linken Parteibasis sehr beliebt ist und in den Tagen vor dem Parteitag auffällig viele Interviews gegeben hat. In Liverpool folgen die Kameras ihm über die Gänge des Parteitages.
Umso größer ist der Druck auf Premier Starmer, wenn er am Dienstagnachmittag seine große Parteitagsrede hält. Doch davor und danach wird Labour noch viel diskutieren, nicht nur in Liverpool.
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