Völkerrecht: «Es gibt kein Recht auf Vernichtung um jeden Preis»
Weite Teile des Gazastreifens sind bereits zerstört und verwüstet. Die Zahl der Toten und Verletzten steigt laufend und die humanitäre Hilfe ist unzureichend. Deshalb wird nun auch im Westen die Kritik an der israelischen Kriegsführung lauter. Wie das israelische Vorgehen aus völkerrechtlicher Sicht einzuschätzen ist, erläutert Völkerrechtsprofessor Oliver Diggelmann.
SRF News: Wie ist das israelische Vorgehen aus völkerrechtlicher Sicht zu beurteilen?
Oliver Diggelmann: Zunächst muss man etwas zum Gesamtbild sagen: Wir hatten einen bestialischen Angriff der Hamas und nun eine Reaktion Israels, die sämtliche Proportionen verloren hat und offenbar gegen den Willen der Mehrheit der israelischen Bevölkerung stattfindet.
Es wurden völkerrechtliche Verbrechen begangen, etwa durch vorsätzliches Aushungern der Zivilbevölkerung und den Einsatz schwerster Bomben ungeachtet der Anzahl ziviler Opfer.
Völkerrechtlich bedeutet das, dass die Militäroperation in Gaza als Ganzes nicht mehr vom Selbstverteidigungsrecht gedeckt ist. Sie ist unverhältnismässig geworden, denn es gibt kein Recht auf Vernichtung um jeden Preis, zumal die Hamas heute mit Sicherheit nicht mehr die Kampfkraft hat, die sie einmal hatte. Es wurden völkerrechtliche Verbrechen begangen, etwa durch vorsätzliches Aushungern der Zivilbevölkerung und den Einsatz schwerster Bomben, ungeachtet der Anzahl ziviler Opfer. Man spricht hier vom Verbot sogenannter unterschiedsloser Angriffe im humanitären Völkerrecht.
Häufig ist von Kriegsverbrechen die Rede, manchmal auch von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und gewisse Beobachter erheben sogar Genozid-Vorwürfe. Wie weit würden Sie in Ihrer Beurteilung gehen?
Ich kann Ihnen sagen, was juristisch klar ist und was nicht. Klar sind bestimmte Kriegsverbrechen, etwa durch den Einsatz von Hunger als Kriegsführungsmethode oder durch unverhältnismässige sogenannte Kollateralschäden. Schwieriger ist es aber bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, etwa wegen Zwangsvertreibung: Übt Israel systematisch Zwang im Sinne des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs aus, damit die Palästinenser Gaza dauerhaft verlassen?
Kann man von einer sogenannten genozidären Absicht sprechen, das heisst einer Vernichtungsabsicht in Bezug auf das Volk der Palästinenser und nicht nur die Hamas?
Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ein Gericht entscheiden würde. Noch schwieriger ist es beim Vorwurf des Genozids, über den der Internationale Gerichtshof im Rahmen der Klage Südafrikas gegen Israel entscheiden muss. Der heikelste Punkt ist hier: Kann man von einer sogenannten genozidären Absicht sprechen, das heisst einer Vernichtungsabsicht in Bezug auf das Volk der Palästinenser und nicht nur die Hamas?
Offiziell geht es Israel immer noch um die Bekämpfung der Terrororganisation Hamas. Dabei wird die Zerstörung von zivilen Infrastrukturen und der Tod von vielen Zivilistinnen und Zivilisten in Kauf genommen. Gibt es da vergleichbare Fälle aus anderen Konflikten?
Solche Vergleiche sind immer schwierig, weil sie ein bisschen stimmen und ein bisschen nicht. Bei den sogenannten Kollateralschäden kann man Mossul im Irak nennen, als der irakische Staat 2016 und 2017 gegen den IS kämpfte. Auch der IS war eine Terrororganisation, die die Zivilbevölkerung rücksichtslos als Schutzschild benutzte. Damals gab es gemäss Schätzungen der UNO etwa 8000 tote Zivilisten. Wenn wir vom Hunger sprechen, kann vielleicht das Vorgehen in Sarajevo als Vergleich herbeigezogen werden. Die Stadt wurde im Jugoslawienkrieg von den Serben belagert. Da gab es mehrere 100 Verhungerte, vielleicht auch mehr als 1000. Das weiss man nicht so genau.
Das Gespräch führte Elmar Plozza.
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