In der U-Bahn-Station Taganskaja in Moskau, am Ende der Halle, wurde jüngst ein neues Denkmal enthüllt. Das Relief zeigt jubelnde Arbeiterinnen und Arbeiter, Kinder heben Blumensträusse in die Luft. In der Mitte steht ein schnauzbärtiger Mann in zugeknöpftem Uniformrock: Josef Stalin.

Die meisten Metro-Passagiere schenken dem Relief keinen Blick, doch einige halten an und fotografieren sich mit Stalin. Wladimir, 73, starrt mehrere Minuten lang auf das Denkmal.

«Ich lebte leider nur kurz unter Stalin», sagt er. «Als er starb, war ich ein Jahr alt. Aber ich profitierte von all dem, was uns Stalin zurückliess. Für mich ist er der grösste Mensch in der Geschichte unseres Staates.»

Oben, auf dem Platz vor dem Eingang zur Metro, finden auch junge Menschen lobende Worte für Stalin.

Legende: Der Platz vor dem Eingang zur Metrostation Taganskaja SRF / Calum MacKenzie

«Stalin war ein guter Mann, er hat das Land aufgebaut und den Krieg gewonnen», sagt der Gymnasiast Nikita. «Ich verbinde ihn nicht nur mit Todesopfern. Ohne ihn würde es dieses Land vielleicht gar nicht mehr geben.»

Unaussprechbare Meinung

Die meisten tun sich aber schwer mit einer Antwort auf die Frage, wie sie zu Stalin stehen.

«Ich habe keine Haltung zu Stalin», sagt eine junge Frau. «Ich weiss, dass es ihn gegeben hat. Warum muss ich eine Haltung dazu haben?»

Ein Student hingegen sagt: «Ich habe eine Meinung, sogar eine ziemlich verbreitete. Aber das heisst nicht, dass man sie aussprechen darf.»

Bei aller Zensur in Russland gibt es noch kein Verbot, Stalin zu kritisieren. Doch es scheint, als würde das neue Denkmal bereits jetzt ein Zeichen aussenden.

Legende: Einige Passantinnen und Passanten bleiben vor dem neuen Stalin-Relief in der Metrostation stehen und knipsen ein Erinnerungsfoto. SRF / Calum MacKenzie

Das Denkmal ist eine Nachbildung eines Reliefs aus der Stalin-Zeit. Nach dessen Tod wurde es entfernt, als die Sowjetregierung mit Stalins Personenkult aufräumte. Nun ist es zurück. Zu den Gründen dahinter schweigt die Pressestelle der Moskauer Metro.

Legende: Im Zentrum des neuen Reliefs in der Metrostation ist Josef Stalin, umgeben von jubelnden Arbeitenden und Kindern. SRF / Calum MacKenzie

Nach der Wende gab es in Russland eine breite Debatte um die Verbrechen der Stalin-Zeit. Führend war dabei die Menschenrechtsorganisation «Memorial». Sie wurde 2021 in Russland verboten. Das Engagement der Organisation war den Behörden ein Dorn im Auge.

«Pfuscharbeit»

Das ehemalige Forschungszentrum von «Memorial» steht weitgehend leer. Ein Raum aber enthält volle Bücherregale. Hier hinein führt der pensionierte Historiker Nikita Petrow.

«Das ist unser Lesesaal», sagt er. «Das ist das Letzte, was übrig geblieben ist, nachdem ‹Memorial› aus politischen Gründen verboten wurde.»

Petrow forschte zum Stalinismus. Vom neuen Relief an der Taganskaja hält er wenig.

«Das ist Pfuscharbeit», sagt er. Das Original sei viel pompöser und detaillierter gewesen. Offensichtlich gehe es den Behörden nicht um eine getreue Restaurierung. «Das ist eine Provokation – eine Prüfung für die Gesellschaft, bei der sie einen Despoten verehren soll.»

Das helfe, die Reaktionen auf das Denkmal zu verstehen, sagt der Historiker. Für die Menschen sei es im heutigen Russland schwer, zu erkennen, wo die Grenze des Sagbaren liege.

Die Leute wollten in einem Land mit einer erfolgreichen Geschichte leben.
Autor: Nikita Petrow Pensionierter Historiker

Stalin habe eine gewisse Anhängerschaft, doch das sei eine Minderheit. Die meisten Russinnen und Russen, so Petrow, seien Stalin gegenüber gleichgültig eingestellt. Das habe auch mit der Aufarbeitung in den 1990ern zu tun.

«Die Leute wollten in einem Land mit einer erfolgreichen Geschichte leben», sagt er. «Die Verbrechen, von denen wir Historiker immer erzählten, verdrängte man lieber. Und Putin hat das aufgegriffen. Er hat gesagt: ‹Niemand darf uns Schuldgefühle aufzwingen.› Das heisst: Vielleicht gab es Verbrechen, aber im Grunde hat der Staat immer richtig gehandelt.»

Legende: Die Aussenfassade des ehemaligen Forschungszentrums von «Memorial». Die altehrwürdige Menschenrechtsorganisation wurde 2021 verboten. SRF / Calum MacKenzie

Putins Verhältnis zu Stalin ist ambivalent. Vor einigen Jahren weihte er noch Mahnmale für dessen Opfer ein und betonte, solche Repression dürfe sich nie wiederholen.

Doch heute dominiert in der Kreml-Propaganda die Erzählung vom Kriegshelden Stalin und vom starken Staat, den er gebaut hat. «Memorial» ist verboten, das Moskauer Gulag-Museum geschlossen.

Das Relief in der U-Bahn ist nicht das einzige neue Stalin-Denkmal in Russland. Im Mai wurden sieben eingeweiht. Verantwortlich waren meist Privatpersonen oder lokale Amtsträger.

Gestohlene Gedenktafeln

Während Stalin-Denkmäler aufgestellt werden, werden andere entfernt. Seit Jahren bringt der Verein Letzte Adresse an Hausfassaden kleine Tafeln an – für ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner, die unter Stalin hingerichtet worden waren. Das Projekt ähnelt den Stolpersteinen für Holocaust-Opfer in Deutschland. Doch in Russland verschwinden die Gedenktafeln.

Legende: Die Gedenktafeln für Personen, die unter Stalins Herrschaft hingerichtet worden waren SRF / Calum MacKenzie

Michail Poljenows Grossvater wurde 1938 erschossen. Der 79-Jährige hat mit der Hilfe des Vereins eine Gedenktafel an dessen Haus anbringen lassen.

Legende: Michail Poljenow, dessen Grossvater unter Stalin hingerichtet worden war SRF / Calum MacKenzie

«Zehn Mal schon wurde die Tafel gestohlen», sagt Poljenow. Er hat sie jedes Mal selbst mit einem Kartonschild ersetzt, bevor eine neue Metallplakette angeschraubt wurde.

Poljenow ist gekommen, um der Einweihung zweier Tafeln beizuwohnen, die zuvor ebenfalls von Unbekannten gestohlen worden waren. Die Brüder Ans und Kristap Abolin lebten in Moskau am Flussufer und wurden ebenfalls 1938 hingerichtet.

«Die Tafeln wurden entfernt, weil die Brüder aus Lettland stammten», sagt Michail Schejnker vom Verein Letzte Adresse. «Lettland gilt in Russland ja jetzt als ‹unfreundliches Land›. Die Leute, die unsere Tafeln stehlen, sind Pseudopatrioten, die meinen, wir würden die Unfehlbarkeit des Staates angreifen.»

Gescheiterte Aufarbeitung

Putin mag keinen neuen Stalin-Kult verordnet haben. Doch seine Anhänger verstehen die Signale aus dem Kreml und agieren mit vorauseilendem Gehorsam – ganz wie zu Stalins Zeiten.

Legende: Michail Schejnker von Letzte Adresse bringt eine Tafel an der Hausfassade an. SRF / Calum MacKenzie

Der Historiker Nikita Petrow hat immer dafür gekämpft, dass Stalins Verbrechen ins nationale Bewusstsein eingehen.

«Ich könnte jetzt etwas Banales sagen wie ‹Wenn wir die Geschichte vergessen, wiederholt sie sich›», sagt er. «Aber das wurde schon hundertmal gesagt. Es funktioniert nicht. Mein ganzes Leben lang habe ich darüber gesprochen, geschrieben, gemahnt. Das ist das Resultat. Anscheinend kann man doch alles vergessen.»

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