Warum Selenskyjs Gesetz für Proteste sorgt
Ein Gesetz, das die Unabhängigkeit von Antikorruptionsorganen beschränkt, schlägt in der Ukraine hohe Wellen. Was besagt das Gesetz? Warum wurde es erlassen und wie reagiert Präsident Selenskyj auf die laute Kritik?
Es sind die größten Proteste in der Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskrieges vor dreieinhalb Jahren: Tausende Menschen gehen im Land seit mehreren Tagen auf die Straße - mobilisiert durch ein Gesetz, das die Unabhängigkeit von Antikorruptionsbehörden einschränkt. Was besagt das Gesetz und warum ist es so brisant?
Was besagt das neue Gesetz?
Das Gesetz, das vom ukrainischen Parlament, der Rada, im Eilverfahren verabschiedet und von Präsident Wolodymyr Selenskyj unterzeichnet wurde, gewährt dem Generalstaatsanwalt mehr Kontrolle über zwei Ermittlungsbehörden, die gegen die Korruption im Land vorgehen sollen. Das Gesetz erlaubt es ihm, Behördenmitarbeitern auf allen Ebenen bis hin zum Chef Anweisungen zu erteilen, alle Unterlagen einzufordern, Fälle zu entziehen und an andere Stellen zu übergeben, wenn er die Ermittlungen der Antikorruptionsbehörde für ineffektiv hält. Er kann auch Verfahren gegen hochrangige Beamte, darunter auch gegen den Präsidenten und Regierungsmitglieder, einstellen lassen.
Das Brisante dabei: Den Generalstaatsanwalt hat Selenskyj erst kürzlich ernannt. Danach berief er ihn auch in den ihm untergeordneten Rat für Sicherheit und Verteidigung.
Um welche Behörden geht es?
Das Gesetz richtet sich gegen das Nationale Antikorruptionsbüro (Nabu) und die Spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft (Sapo). Beide Institutionen wurden nach der pro-westlichen Revolution von 2014 gegründet - mit westlicher Unterstützung. Ihre Aufgabe ist es, unabhängig Korruption, die ein großes Problem im Land darstellt, auf hoher Ebene zu bekämpfen. Dies ist eine Kernforderung für den Erhalt von westlicher Finanzhilfe in Milliardenhöhe und für den Beitritt zur EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten.
Die Behörden hatten ihre Arbeit während der russischen Invasion intensiviert und Anklagen gegen Abgeordnete, hohe Regierungsbeamte und einen ehemaligen stellvertretenden Leiter von Selenskyjs Präsidialverwaltung erhoben.
Warum wurde das Gesetz erlassen?
Selenskyj wirft den Antikorruptionsbehörden vor, vom russischen Einfluss unterwandert zu sein - dies soll mit dem Gesetz bekämpft werden. Außerdem wolle man die Arbeit stärken und beschleunigen.
Allerdings wird im Hintergrund ein Machtkampf der Sicherheitsorgane vermutet. Medien berichteten, dass die Antikorruptionsbehörden gegen den angeblich Selenskyj nahestehenden Ex-Vizeregierungschef Olexij Tschernyschow ermittelt haben sollen.
Erst einen Tag vor der eiligen Verabschiedung des neuen Gesetzes hatte der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU, der direkt Selenskyj untersteht, zwei Nabu-Beamte wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Russland festgenommen und Durchsuchungen bei Mitarbeitern der Behörde vorgenommen.
Welche Reaktionen gibt es international?
Der Druck auf Selenskyj und seine Regierung wächst nicht nur innerhalb der Ukraine. Der Westen zeigt sich besorgt über die Fortschritte des Landes bei der Korruptionsbekämpfung. EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos warnte Kiew, das neue Gesetz sei ein "ernsthafter Rückschritt" auf dem Weg zu einem EU-Beitritt. Rechtsstaatlichkeit und unabhängige Behörden im Kampf gegen die Korruption blieben "im Mittelpunkt der EU-Beitrittsverhandlungen", schrieb sie beim Onlinedienst X.
Den Warnungen aus Brüssel hat sich auch Berlin angeschlossen. "Die Einschränkung der Unabhängigkeit der ukrainischen Antikorruptionsbehörde belastet den Weg der Ukraine in die EU", schrieb Bundesaußenminister Johann Wadephul. Er erwarte von der Ukraine die konsequente Fortsetzung der Korruptionsbekämpfung. Dies sei einer der Gründe dafür gewesen, warum er sich in Kiew mit den Leitern von Nabu und Sapo getroffen habe.
Nach Angaben von Regierungssprecher Stefan Kornelius planen Kanzler Friedrich Merz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron intensive Gespräche mit Selenskyj über die Korruptionsbekämpfung in der Ukraine.
Wie reagiert Selenskyj?
Um die Kritik einzufangen, traf sich Selenskyj am Dienstag mit den Chefs der Behörden. Bei dem "offenen und hilfreichen" Treffen sei die Ausarbeitung eines Aktionsplans beschlossen worden, um die bestehenden Probleme zu lösen, schrieb er auf Telegram.
In einem Statement sagte er zudem, dass er dem ukrainischen Parlament einen Gesetzesentwurf unterbreiten wolle, der Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Antikorruptionsinstitutionen sicherstellen soll. "Natürlich hat jeder gehört, was die Menschen in diesen Tagen sagen - in den sozialen Medien und untereinander und auf der Straße. Das war nicht umsonst. Wir haben alle Bedenken, all das was geändert werden muss, analysiert", so der Präsident.
Die beschwichtigenden Töne und Ankündigungen des Präsidenten scheinen die Wogen allerdings nicht ganz zu glätten. Nach dem Treffen mit Selenskyj forderte der Nabu-Chef auf seinem Telegram-Kanal, das Gesetz ganz zurückzunehmen. Und es wird vermutet, dass die Proteste auf den Straßen in den kommenden Tagen zunehmen werden.
Quellen: Reuters, dpa, AFP. Mit Informationen von Rebecca Barth und Florian Kellermann, ARD-Studio Kiew.
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