Der 7. Oktober als Zeitenwende im Nahen Osten?
Wie wegweisend ist der 7. Oktober für die Geschichte im Nahen Osten? Das ist eine Frage, mit der sich viele Fachpersonen im Moment beschäftigen. Der iranisch-amerikanische Historiker Arash Azizi sieht die Entwicklungen nach dem Angriff der Hamas-Milizen auf Israel im Kontext eines längerfristigen Wandels: «Die Region entfernt sich von transnationalen Ideologien hin zu stärker national geprägten Staaten.»
Der panarabische Gedanke des 20. Jahrhunderts – einst Treiber grenzübergreifender Bewegungen wie der Muslimbruderschaft oder der Baath-Partei – habe ausgedient, er sei höchstens noch im Iran zu erkennen oder bei gewissen jihadistischen Gruppierungen.
Pragmatismus statt Ideologie
Stattdessen dominiere ein neues Selbstverständnis: Nationalstaaten wie Saudi-Arabien und die weiteren Golfmonarchien sowie Ägypten und Jordanien setzen zunehmend auf Eigeninteressen und pragmatische Allianzen – teils sogar mit Israel.
Sharaa ist das Aushängeschild für einen pragmatischeren Nahen Osten.
Ein Paradebeispiel dafür sei Ahmed al-Sharaa, der neue starke Mann in Syrien. «Sharaa ist das Aushängeschild für einen pragmatischeren Nahen Osten.» Einst islamistischer Kämpfer, heute moderater Übergangspräsident, der zumindest indirekt mit Israel verhandelt, um eine Beendigung des Kriegszustandes zu erwirken. Für Azizi verkörpert Sharaa den Aufbruch in eine entideologisierte Zukunft im Nahen Osten.
Doch diese Lesart ist nicht unumstritten. Nahostexperte Joost Hiltermann von der International Crisis Group warnt: «Sharaa mag pragmatisch handeln, aber ideologisch ist er keineswegs geläutert.» Eine Radikalisierung sei jederzeit wieder möglich – einerseits wenn Syrien erneut international isoliert dastehen oder wenn die Gewalt im Land weiter zunehmen würde.
Dann könnte Sharaa gezwungen sein, selbst wieder stärker ideologisch aufzutreten, um seine Machtbasis zu sichern, so Hiltermann. Der Anschlag auf eine Kirche in Damaskus Ende Juni, bei dem 25 Menschen starben, zeigt, wie fragil die Lage noch immer ist.
Der Rückzug aus regionalen Stellvertreterkriegen bedeutet keineswegs das Ende ideologischer Herrschaft.
Auch im Iran zeigt sich: «Der Rückzug aus regionalen Stellvertreterkriegen bedeutet keineswegs das Ende ideologischer Herrschaft», so Hiltermann. Zwar hat das Land mit dem Verlust seiner regionalen Verbündeten an Einfluss eingebüsst. Doch die Reaktion auf den Zwölftagekrieg mit Israel in Teheran zeigt das Gegenteil eines Rückzugs: Verhaftungswellen und Rhetorik der Härte sprechen eine deutliche Sprache nach innen.
Hinzu kommt wachsende Frustration auf der Strasse. Selbst in formal gemässigten Staaten wie Jordanien oder den Emiraten entfremdet sich die Bevölkerung zusehends von der politischen Führung, die das Kriegsbeil mit Israel beiseite gelegt hätte. «Der Krieg in Gaza und die anhaltende Besatzung radikalisieren weite Teile der arabischen Bevölkerung», sagt Joost Hiltermann.
Ideologie auch in Israel
Nicht zuletzt handle auch Israel selbst zunehmend ideologisch, warnt der Nahostexperte der International Crisis Group. «Die aktuelle Regierung verfolgt eine Strategie der territorialen Expansion – mithilfe gezielter Siedlungspolitik zwischen Mittelmeer und Jordanfluss – womöglich sogar darüber hinaus.» Der israelische Premierminister, so Hiltermann, schade mit seinem Vorgehen dem langfristigen Ziel, die Region zu stabilisieren.
Der 7. Oktober 2023 hat zweifellos die Machtverhältnisse in der Region verändert – doch eine Zeitenwende ist damit nicht eingeläutet.
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