Russland verstehen: Friedenspreis für Historiker mit Gespür für die Gegenwart
Dass der Historiker Karl Schlögel in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommt, erfüllt die russische Menschenrechtsaktivistin Irina Scherbakowa "mit großer Freude".
"Aufklärer mit Empathie"
Schlögel habe nach Jahrzehnte langen Recherchen eindringlich und mit Empathie darüber geschrieben, was die Jahre des roten Terrors in den 1930er-Jahren für die Menschen in Russland damals und bis heute bedeuteten, sagte Scherbakowa im Gespräch mit MDR KULTUR. Seine Bücher seien nicht nur ins Russische übersetzt, sondern dort auch gelesen und diskutiert worden.
Aus ihrer Sicht würdigt der Preis sowohl Schlögels Engagement für historische Aufklärung wie auch seine intellektuelle Integrität. Schließlich habe Schlögel früh davor gewarnt, "wohin die Reise geht mit Putins Regime", führte die Friedensnobelpreisträgerin mit Blick auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine weiter aus. Dabei habe er eigene Illusionen eingeräumt. Auf die Frage nach Stimmen, die kritisierten, dass der Friedenspreis an Schlögel gehe, obwohl er Waffenlieferungen an die Ukraine befürworte, antwortete sie: "Das ist eine tragische, unmögliche Diskussion. Mit Putin ist kein Frieden zu erreichen."
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2025 für Schlögel
Am Dienstag hatte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels bekannt gegeben, die renommierte Auszeichnung 2025 an den deutschen Historiker und Essayisten zu vergeben. Zur Begründung hieß es, der 77-Jährige gelte als einer "der profiliertesten Kenner Osteuropas" und verbinde empirische Geschichtsschreibung mit persönlichen Erfahrungen. Zudem habe er als einer der Ersten "vor der aggressiven Expansionspolitik Wladimir Putins und seinem autoritär-nationalistischen Machtanspruch gewarnt". Schlögel betrachte die Ukraine als Teil Europas und fordere, "das Land um unserer gemeinsamen Zukunft willen zu verteidigen. Seine Mahnung an uns: Ohne eine freie Ukraine kann es keinen Frieden in Europa geben".
"Unsere Väter waren im Krieg"
Im Gespräch mit MDR KULTUR verwies Scherbakowa auch auf die Unterstützung Schlögels für die Arbeit der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich als NGO für die Aufarbeitung von Staatsverbrechen der Stalin-Zeit und der Gegenwart einsetzt und inzwischen in Russland verboten wurde. Als Mitgründerin wurde Scherbakowa 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Mit Schlögel teile sie den Traum von einem friedlichen Zusammenleben in einem demokratischen Europa, das nach 1989 möglich schien, führte Scherbakowa weiter aus: "Wir gehören beide einer Generation an, unsere Väter waren beide im Krieg, ihr Leben wurde davon geprägt", betont sie. Deswegen habe sie einst Germanistik studiert und Schlögel osteuropäische Geschichte. Die "Beziehungskrise" zwischen ihren Heimatländern analysierte Scherbakowa bereits 2015 mit Schlögel im gemeinsamen Buch "Der Russland Reflex".
Alltag und Geschichte in Russland und Osteuropa
Karl Schlögel wurde 1948 in Hawangen im Allgäu geboren. Er studierte in Berlin osteuropäische Geschichte, Philosophie, Soziologie und Slawistik. 1966 reiste er erstmals in die Sowjetunion, 1968 erlebte er den Prager Frühling persönlich. Seine Forschung prägten Aufenthalte in Moskau und Leningrad in den 1980er-Jahren. 2014 reiste er nach der Besetzung der Krim in die Ukraine.
In seinen Arbeiten verbindet Schlögel laut Friedenspreis-Jury "detailreiche Alltagsbeobachtungen mit einer raumbezogenen Geschichtsschreibung, um die Kultur- und Zeitgeschichte Russlands und Osteuropas neu zu erzählen". Mit Werken wie "Terror und Traum" (2008) oder "Das sowjetische Jahrhundert" (2017) habe er "Maßstäbe für eine anschauliche, lebendige Geschichtsschreibung gesetzt", betonte Börsenvereins-Vorsteherin und Stiftungsrat-Vorsitzende Karin Schmidt-Friderichs. Karl Schlögel wurde für seine Werke vielfach ausgezeichnet, 2018 erhielt er für "Terror und Traum" den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik.
Preisverleihung zur Frankfurter Buchmesse
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ist mit 25.000 Euro dotiert und wird seit 1950 vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels vergeben. Die feierliche Verleihung findet traditionell zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse in der Paulskirche statt – in diesem Jahr am 19. Oktober. Im vergangenen Jahr war die US-amerikanische Historikerin Anne Applebaum geehrt worden. Im Jahr davor hatte der britisch-indische Schriftsteller Salman Rushdie den Friedenspreis erhalten.
Quellen: MDR KULTUR (Annett Mautner), Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, dpa; redaktionelle Bearbeitung: lig, ks
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