• Nach der Wende verlor das Mitteldeutsche Revier durch innerdeutsche Abwanderung rund 60.000 Menschen, darunter besonders viele junge Erwachsene.
  • Erneut steht ein Strukturwandel bevor – allerdings mit gänzlich anderen Voraussetzungen als damals.
  • "Viele Kumpel bringen Kompetenzen mit, die auch in anderen Bereichen gefragt sind", sagt Arbeitsmarktforscher Per Kropp.
  • Im Burgenlandkreis macht man sich schon heute Gedanken, wie man die Kumpel in der Region halten kann.

Im Dreiländereck von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen lag zu DDR-Zeiten eines der wichtigsten Zentren der Braunkohleproduktion: das Mitteldeutsche Revier. Riesige Schaufelradbagger fraßen sich durch die Landschaft und holten Millionen Tonnen Kohle aus der Erde, rund 60.000 Menschen lebten in der Region von diesem Geschäft. Doch nach der Wende brach die Industrie zusammen: Die Betriebe waren nicht mehr konkurrenzfähig, Zehntausende verloren ihre Jobs. Eine halbe Generation junger Erwachsener kehrte dem Mitteldeutschen Revier den Rücken und zog in den Westen.

Heute sind nur noch wenige Gruben in Betrieb, bis spätestens 2035 soll auch die letzte schließen. Wieder steht der Region ein Wandel bevor. Wie stark wird sich das Mitteldeutsche Revier diesmal verändern? Wird die Jugend erneut ihre Heimat verlassen? Eine Analyse von MDR Data gibt Antworten – und zeigt, warum der bevorstehende Strukturwandel mit dem Schock von damals nicht zu vergleichen ist.

"Man kann es niemandem verdenken, der sein Glück woanders gesucht hat"

Per Kropp erinnert sich noch an die Jahre nach der Wende, als er in Leipzig lebte und südlich der Stadt plötzlich leere Löcher die Landschaft prägten. "Das fiel in eine Phase, in der alles drumherum ebenfalls zusammenbrach", sagt Kropp. "Ich glaube, genau darin liegt die Dramatik dieser Zeit."

Kropp arbeitet am halleschen Standort des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und forscht zum Strukturwandel in der Region. Weil die Kohleindustrie im Mitteldeutschen Revier Anfang der 1990er-Jahre plötzlich nicht mehr konkurrenzfähig war, brach die Zahl der Beschäftigten von rund 60.000 auf unter 5.000 ein. Im Westen hingegen lockten gute Jobs und Perspektiven. "Man kann es niemandem verdenken, der sein Glück damals woanders gesucht hat", sagt Kropp.

Wie gravierend die demografischen Folgen waren, zeigen Daten des Statistischen Bundesamts. Zwischen 1991 und 1993 verlor das Mitteldeutsche Revier durch innerdeutsche Wanderungen netto rund 60.000 Menschen. Allein Halle verlor fast 14.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Auch Sangerhausen und Altenburg, damals noch eigenständige Kreise, verzeichneten starke Abwanderungen.

Besonders dramatisch waren die Verluste bei den jungen Erwachsenen. In der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen wanderten rund 16.000 Menschen zu, 30.000 wanderten ab – ein Netto-Verlust von 14.000 jungen Erwachsenen innerhalb von drei Jahren. Einige von ihnen zogen nach Berlin oder Dresden, aber die meisten landeten im Westen: rund 5.800 in Bayern, 5.100 in Baden-Württemberg, 4.100 in Nordrhein-Westfalen, 3.400 in Niedersachsen und 2.300 in Hessen. Ein Exodus der Jugend.

Die Folgen seien bis heute spürbar, sagt Arbeitsmarktforscher Per Kropp. "Letztlich war das ein riesiger Brain Drain." Unter den Abgewanderten seien viele qualifizierte und engagierte Menschen gewesen. Auch deshalb falle der demografische Wandel in der Region so stark aus: Weil damals ein großer Teil der heutigen Elterngeneration fortgezogen sei, fehle es nun im Mitteldeutschen Revier an jungen Menschen.

Nur noch rund 2.000 Beschäftigte in der Braunkohle

Nun steht erneut ein Strukturwandel bevor, bis spätestens 2035 sollen auch die letzten mitteldeutschen Gruben schließen. Kropp untersucht, wie sich die Region diesmal verändern könnte. "Viele der wenigen verbliebenen Bergleute werden ihre Arbeitsstelle wechseln müssen", sagt er. "Aber sie werden einen neuen Job finden. Selbst wenn wir von heute auf morgen sämtliche Gruben schließen würden, wäre das in keiner Weise vergleichbar mit der Situation nach der Wende."

Per Kropp (IAB)Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Zum einen ist die Zahl der betroffenen Arbeitsplätze heute deutlich geringer als damals: Im Mitteldeutschen Revier sind nur noch rund 2.000 Menschen in der Braunkohleindustrie beschäftigt. Zum anderen haben sich die demografischen Rahmenbedingungen verändert. Viele Beschäftigte sind inzwischen über 50 und werden den Stellenabbau ohnehin nicht mehr selbst miterleben.

Der demografische Wandel führt zu Chancen auf dem Arbeitsmarkt

Und auch insgesamt gilt: Die geburtenstarken Jahrgänge gehen nach und nach in Rente. In den kommenden zehn Jahren erreichen im Mitteldeutschen Revier rund 300.000 Menschen das Rentenalter, während nur rund 180.000 ins Erwerbsalter nachrücken. Der Arbeitsmarkt wird sich also eher entspannen, für junge Erwachsene eröffnen sich neue Chancen – auch für jene, die vom Kohleausstieg betroffen sind.

"Strukturwandel bedeutet für den Einzelnen natürlich immer Unsicherheit", sagt Kropp. Gerade junge Menschen müssten sich oft neu orientieren, vielleicht in andere Branchen wechseln, in denen die Löhne niedriger seien als in der Braunkohle. Gleichzeitig seien die Perspektiven gut: "Viele Kumpel bringen Kompetenzen mit, die auch in anderen Bereichen gefragt sind. Besonders im verarbeitenden Gewerbe finden sie auf alle Fälle Arbeit" – also beispielsweise in Fabriken oder Werkstätten.

Ähnlich sieht es Klaus Friedrich, emeritierter Professor für Sozialgeographie an der Universität Halle. "Selbst wenn in der Braunkohle ein paar tausend Arbeitsplätze wegfallen, ist das kein Vergleich zu den Verlusten an Beschäftigten durch die demografische Entwicklung", sagt er. Nach der Wende habe die ungeplante Transformation der Gesellschaft zu abrupten Brüchen in vielen Biografien geführt. Heute gebe es hingegen den Versuch eines geplanten Wandels, unterstützt durch staatliche Subventionen.

Unser Wunsch ist, dass die Kumpel bis 2035 innerhalb des Landkreises ähnlich gut bezahlte Industriearbeitsplätze finden

Götz UlrichLandrat Burgenlandkreis

Die größte noch aktive Grube im Mitteldeutschen Revier ist der Tagebau Profen, in dem bis 2035 Kohle gefördert werden soll. Er liegt größtenteils im Burgenlandkreis. Landrat Götz Ulrich (CDU) denkt schon heute darüber nach, was in zehn Jahren aus den Kumpeln wird. "Es gibt die Erzählung, dass die Leute immer älter werden, dass heute schon viele Arbeitsplätze unbesetzt sind und wir gar keine neuen brauchen", sagt Ulrich. "Das würde bedeuten, dass wir den Verfall, der mit dem Kohleausstieg einhergeht, einfach hinnehmen und die Hände in den Schoß legen."

Das sei allerdings weder sein Ziel noch das des Kreistags. "Unser Wunsch ist, dass die Kumpel bis 2035 innerhalb des Landkreises ähnlich gut bezahlte Industriearbeitsplätze finden." Deshalb wolle man dafür sorgen, dass sich neue Unternehmen ansiedeln – und mit ihnen vielleicht sogar neue Arbeitskräfte. "Wir haben in den letzten 25 Jahren so viele junge, qualifizierte Menschen verloren", sagt Ulrich: "Wir hoffen, dass der eine oder die andere durch solche Angebote wieder in die Region zurückkommt."

Das Verhältnis zwischen Jung und Alt gerät aus dem Gleichgewicht

Wie dringend die Region auf junge Menschen angewiesen ist, zeigt auch eine aktuelle Prognose des Statistischen Landesamts Sachsen-Anhalt. Demnach könnte die Zahl der Rentnerinnen und Rentner in den Kreisen des Mitteldeutschen Reviers leicht steigen, während die Zahl der jungen Erwachsenen zwischen 19 und 24 Jahren um rund 10 Prozent zurückgehen dürfte. Das Verhältnis zwischen Jung und Alt gerät immer mehr aus dem Gleichgewicht.

Um dem entgegenzuwirken, fordert Sozialgeograf Klaus Friedrich vor allem in den ländlichen Regionen Maßnahmen, um junge Menschen vor Ort zu halten: etwa eine Stärkung regionaler Zentren, damit die Menschen für Einkäufe oder Arztbesuche nicht in die Großstadt fahren müssen, und vor allem den Erhalt von Kitas und Schulen, selbst bei sinkenden Kinderzahlen. "Die wichtigste Maßnahme ist eine familien- und kinderfreundliche Regionalpolitik", sagt Friedrich. "Dann kommen auch junge Familien wieder aufs Land zurück."

MDR (Hannes Leonard, Maximilian Schörm, David Wünschel)

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke