Herr Borke, Lehrerinnen und Lehrer sind laut Umfragen einig, dass Erstklässler heute oft mit Problemen in die Grundschule starten. Verhaltensauffälligkeiten, Konzentrationsstörungen, der berühmte Stift, der nicht mehr gehalten werden kann. Sind diese Defizite tatsächlich heute größer als früher? 

Jörn Borke: So ganz eindeutig ist die Studienlage da nicht, aber es ist, glaube ich, nicht falsch, dass da gewisse Defizite zugenommen haben. Auch in die Richtung, wie Sie die gerade angesprochen haben. Und es gibt Studienergebnisse, die Iglu-Studie zum Beispiel, die geben Hinweise darauf, dass die Lesekompetenz von Grundschülerinnen und -schülern schlechter geworden ist. Also ja, es gibt Hinweise darauf, dass es im Vergleich zu den vorherigen Jahren durchaus vermehrt zu Auffälligkeiten kommt oder dass Kompetenzen früher größer waren in manchen Teilbereichen.

Wo sehen Sie mögliche Gründe dafür? 

Zum einen kann man sehen, dass in Elternhäusern vielfach weniger vorgelesen wird, Eltern manchmal auch weniger mit ihren Kindern sprechen. Das sind durchaus keine Einzelfälle, dass Eltern eben auch viel zu tun haben, häufig am Smartphone beschäftigt sind und weniger auf die Kinder eingehen, weniger sprechen, nicht so schnell reagieren auf Signale des Kindes. Das kann zu Sprachschwierigkeiten führen oder dazu, dass Kinder sich in manchen Bereichen langsamer entwickeln oder Kompetenzen später nachholen.

Sicherlich auch nicht immer einfach unter den aktuellen Bedingungen ist es, die frühe Bildung in der Kita gut aufrechtzuerhalten. Überwiegend gibt es sehr, sehr engagierte Fachkräfte, die mit guten Ideen gute Bildungsarbeit leisten. Aber es ist nicht immer einfach, wenn die Personaldecke dünn ist, dann die Kinder auch in den Kitas in ihrer frühen Bildung zu unterstützen, wie das nachweislich gut gelingen kann.

Die Schule ist nicht unbedingt optimal angepasst an die individuellen Lernunterschiede und Entwicklungsstände der Kinder.

Jörn BorkeEntwicklungspsychologe

Das entschärft sich jetzt vielleicht ein bisschen durch den demografischen Wandel, den es in einigen Regionen gibt, gerade auch in den mitteldeutschen Bundesländern. Wobei es da sinnvoll wäre, eben jetzt nicht zu denken, da gehen die Kinderzahlen zurück, da können wir jetzt sparen an den Kitas. Sondern es wäre gut, die Ressourcen aufrechtzuerhalten und noch zu verstärken, um die frühkindliche Bildung noch besser zu machen. Da hat sicherlich auch die Schule ein ähnliches Problem mit dem Lehrerinnen- und Lehrermangel. Dadurch ist die Schule nicht unbedingt optimal angepasst an die individuellen Lernunterschiede und Entwicklungsstände der Kinder.

Und dann gibt es gesellschaftliche Veränderungen, digitale Medien, ein anderes Mediennutzungsverhalten. Kinder kommen schon früh mit Smartphones und Tablets in Kontakt, was eine große Chance sein kann, aber wenn es nicht gut umgesetzt wird, auch zu zu Schwierigkeiten führen kann.

Als zentrale Probleme benennen die Lehrkräfte aber auch Sprachdefizite und Integrationsschwierigkeiten. Sind Kitas und Schulen mit der Aufnahme von migrantischen Kindern überfordert? 

Sicherlich nicht pauschal. Da gibt es ja unterschiedlichste Beispiele, wo das gut gelungen ist und auch Beispiele, wo es eben vielleicht nicht gelungen ist. Ich glaube, dass Vielfalt in unserer Gesellschaft zunimmt und das nicht nur durch Menschen, die nach Deutschland einwandern, sondern auch durch zunehmende Individualisierung. Um Unterschiede zu haben, brauchen Sie gar nicht zwingend Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Sondern Sie haben heute zum Beispiel Eltern, die möchten, dass ihr Kind vegan ernährt wird oder vegetarisch. Manche möchten, dass ihr Kind Grenzen lernt. Andere möchten gern, dass das Kind möglichst selbst gestalten kann und wenig Grenzen von Fachkräften gesetzt bekommt. Also da haben Sie generell immer eine große Vielfalt. Die wird natürlich durch Menschen mit Einwanderungsgeschichte noch größer.

Dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte per se dafür sorgen, dass das Schulniveau sinkt, ist eine Fehldeutung.

Jörn BorkeEntwicklungspsychologe

Es braucht Ressourcen, um mit Vielfalt umzugehen, um angemessen auf Vielfalt zu reagieren. Und das ist, wenn personell unterbesetzt ist, eben eine Herausforderung. Wo es auch eine Haltung braucht von den Lehrkräften, dass sie das als Chance und weniger als Problem sehen.

Aber dass jetzt Menschen mit Einwanderungsgeschichte per se dafür sorgen, dass das Schulniveau sinkt, ist eine Fehldeutung. Wenn man guckt, welche Schüler und Schülerinnen Probleme haben, dann findet man das wirklich eher darin, wie die Kinder sozialisiert sind, wie mit den Kindern umgegangen worden ist zu Hause, wie sind sie gefördert und unterstützt worden sind – und nicht anhand der Frage, ob die Kinder in Deutschland aufgewachsen sind oder ob es da einen Einwanderungshintergrund in der Familie gibt.

Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass in vielen Klassen Schülerinnen und Schüler sitzen, die große Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben. Hier setzt ja auch die Politik an und es werden Sprachtests diskutiert, die schon in der Kita-Zeit verpflichtend sind. Ist das ein richtiger Ansatzpunkt?

Jein. Wenn das gut gemacht ist, kann das eine förderliche Maßnahme sein, also verpflichtende Sprachtests mit anschließender Sprachunterstützung. Das hat aber viele Stolpersteine. Damit es gelingen kann, braucht man gute Spracherhebungsinstrumente. Die gibt es in nur in Ansätzen, keine komplett überzeugenden. Aber es gibt eine große Fülle, da könnte man sich für ein Instrument entscheiden, was möglichst wenig Nachteile hat. Dann braucht es kompetentes, geschultes Personal, das die Tests durchführt und ebensolches Personal, das eine gute Sprachförderung mit den Kindern macht.

Bei den Sprachförderprogrammen gibt es nachweislich einige, die auch nicht viel taugen.

Jörn BorkeEntwicklungspsychologe

Das heißt, es gibt hier verschiedene Stellschrauben. Es kann passieren, dass die Erhebungsinstrumente zur Sprachstandserhebung nicht gut sind, dass die Leute nicht gut geschult sind oder das gestresst machen müssen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass man falsch positiv und falsch negativ einschätzt, also Kinder als defizitär einordnet, die es möglicherweise gar nicht sind, oder defizitäre Kinder übersieht. Bei den Sprachförderprogrammen gibt es nachweislich einige, die auch nicht viel taugen. Also die schaden nicht, aber die bringen auch nichts. Insofern bin ich ein bisschen skeptisch, ob das alles so in der Form qualitativ gut geleistet werden kann und ob nicht diese ganzen Ressourcen besser in eine alltagsintegrierte Sprachförderung in Kitas investiert werden kann, weil das nachweislich Effekte hat.

Verpflichtende Sprachstandsprüfungen mit anschließenden Förderstunden werden diskutiert, um Sprachdefizite von Kindern in der Grundschule zu verringern.Bildrechte: picture alliance/dpa | Peter Kneffel

Für viele Kinder kämen solche Programme zu spät, denn sie werden jetzt eingeschult. Was kann in den einzelnen Klassen, die jetzt starten, getan werden, damit der Beginn gut gelingt? 

Wichtig wäre – und ich hoffe, das passiert in Grundschulen auch –, dass die Kinder individuell betrachtet werden mit ihrem jeweiligen Entwicklungsstand, ihrem jeweiligen Lernpotenzial und auch ihren Zugangswegen zum Lernen. Denn das ist einfach sehr unterschiedlich. Das kann die Kita noch leichter vielleicht bewältigen, weil eine Kita nicht unbedingt einem Bildungsplan folgt, wo gewisse Kompetenzen am Ende des ersten Jahres mit Noten abgeprüft werden. Sondern in der Schule haben sie Kinder, die sind alle sechs Jahre alt auf dem Papier, also gleich, was das Lebensalter angeht. Sie sind aber natürlicherweise in ihrem Entwicklungsstand unterschiedlich. Sie haben meinetwegen Kinder, die sind sprachlich auf dem Stand von Achtjährigen und welche, die sind sprachlich auf dem Stand von Vierjährigen. Das sind keine Defizite. Die einen sind nicht unbedingt hochbegabt, die anderen haben nicht unbedingt ein Problem.

Was würden Sie Eltern raten, deren Kinder in die Schule starten. Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen? 

Wichtig wäre erstmal, als Eltern auf eine Art entspannt zu sein, aber auch das Kind zu beobachten, dem Kind nach Möglichkeit Lust zu machen auf die Schule, das Kind zu motivieren und gut zu begleiten. Einfach nah dran zu sein, mit dem Kind zu sprechen. Und wenn das Kind irgendwie unzufrieden ist oder irgendwas nicht so gut läuft, es zu unterstützen. Wenn dann doch irgendwie Defizite auftauchen, dann vielleicht zu gucken, was kann man da gut machen. Das ist natürlich eine Gratwanderung, die Kinder nicht unnötigerweise zu problematisieren. Weil vieles ist einfach auch normal und verändert sich noch im Laufe des Lebens. Aber da wo nach reiflicher Überlegung und Prüfung Defizite auftauchen, da kann man auch als Eltern unterstützen – je nachdem, um welchen Bereich es geht, auch spielerisch.

Die Originalfassung des Interviews wurde geschnitten. In der Textform sind zur besseren Lesbarkeit und zum Verständnis ebenfalls Passagen gekürzt und bearbeitet worden.

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