64 Sekunden, die Magdeburg für immer veränderten
Inhalt des Artikels:
- Hintergrund: Jahrelange Rechtsstreits mit Flüchtlingshilfe in Köln
- Anschlag in Magdeburg: Der erste Versuch
- Drohungen bis zum nächsten Plan
- Der Anschlagsplan
- 20. Dezember 2024: Der Tag des Anschlags
- Der Anschlag
- Keine Reue in der U-Haft
Der Täter der Todesfahrt in Magdeburg vom 20. Dezember 2024 ist geständig. Gegenüber seinen Opfern, den Medien und – wie nun bekannt wurde – auch gegenüber der Polizei hat er seine Tat zugegeben. Auch die Polizei kommt auf den ersten Seiten des über 200 Seiten starken Berichts zu einem klaren Urteil. Die Fahrt von Taleb A. wird klar als Amokfahrt eingestuft und nicht als Attentat.
Der Bericht zeigt aber auch: Die Planung scheint keine Kurzschlusshandlung gewesen zu sein, sondern war offenbar über Jahre vorbereitet.
Hintergrund: Jahrelange Rechtsstreits mit Flüchtlingshilfe in Köln
Schon Jahre bevor Taleb A. in seine karge Zweiraumwohnung in Bernburg zieht, schwelt ein Konflikt mit der Säkularen Flüchtlingshilfe Deutschland mit Sitz in Köln. Der Täter führt einen jahrelangen juristischen Streit mit dem Verein aus.
Er fühlte sich laut Bericht von Mitgliedern der Organisation diffamiert und spricht in sozialen Medien sowie in E-Mails von "Verschwörungen" und "Intrigen" gegen ihn. Wiederholt habe er der Gruppe vorgeworfen, seinen Ruf systematisch zu zerstören und Kontakte zu Behörden genutzt zu haben, um ihn juristisch oder beruflich unter Druck zu setzen. Er habe einzelne Personen aus dem Umfeld der Flüchtlingshilfe als "politische Gegner" bezeichnet und in Botschaften gedroht, er werde sie "erledigen". Die Ermittler ordnen diese Feindbilder nicht als politisches Tatmotiv ein, sondern als Ausdruck persönlicher Kränkung und Rachefantasie.
Anschlag in Magdeburg: Der erste Versuch
Im August 2023 zieht Taleb A. erneut in Köln als Kläger gegen die Flüchtlingshilfe vor Gericht. Wieder unterliegt er am 16. August 2023 im Verfahren, doch diesmal ändert sich sein Umgang mit der Niederlage. Zum ersten Mal reift demnach ein Entschluss, sich zu rächen und einen Anschlag zu begehen. Sein Ziel: die Staatsanwaltschaft in Magdeburg. In einer Haftbefragung habe er gegenüber der Polizei angegeben, einen Anschlag mit 20 bis 30 Gaszylindern gegen die Staatsanwaltschaft Magdeburg geplant zu haben. Auch das Besprühen der Wände als stille politische Botschaft habe er in Erwägung gezogen.
Attentäter späht Orte in Magdeburg aus
Später verlagert er seine Ideen laut Bericht auf zentrale Orte in Magdeburg. Ziel seiner Ausspähaktion sei der Ulrichsplatz gewesen – zentral in der Innenstadt und in der unmittelbaren Nähe seines späteren Tatorts. Bereits am 25. August fertigt er Fotos der Umgebung an, die Ermittler auf seinem Smartphone sicherstellen können. Auch ein Datum für einen Anschlag sei bereits in seinem Kopf gewesen. Ob der im Verhör angegebene 13. November 2023 im Zusammenhang mit dem Anschlag von Islamisten in Paris 2015 steht, konnten die Ermittler nicht klären.
Eine wegen Bauarbeiten außer Betrieb befindliche Polleranlage in der Nähe des Café Alex hätte ihm die Zufahrt zum Platz erleichtert. Doch im Laufe der Wochen ändert er dem Bericht zufolge erneut das Ziel und fokussiert sich auf den Fußgängerüberweg am Allee-Center. Später wird er bei seiner Amokfahrt genau diesen Zugang wählen. Auch im November 2023 plant er eine Amokfahrt mit einem gemieteten SUV der Marke Seat. Am 10. November 2023 führt er eine Probefahrt durch. Durch seinen Rechtsanwalt kommt jedoch am gleichen Tag neue Hoffnung auf, den Zivilprozess gegen die Flüchtlingshilfe doch noch zu gewinnen. Taleb A. lässt die Amokpläne fallen.
Drohungen bis zum nächsten Plan
Während er durch den Kontakt mit seinem Anwalt neue Hoffnung schöpft und zunächst von weiteren Anschlagsplänen absieht, radikalisiert er sich in den sozialen Netzwerken weiter. Drohungen und Strafanzeigen sind an der Tagesordnung. Die Ermittler analysieren, er sei nie ganz von den Anschlagsplänen abgerückt.
Eine Anzeige im Revier Salzlandkreis habe er nur geschrieben, um später damit weitere Taten zu rechtfertigen. Später fragt er auf X, ob man ihn verurteilen würde, wenn er 20 Deutsche töten würde. Etwas Großes werde in Deutschland passieren. Seine Erkenntnis: Er habe vergeblich Gerechtigkeit gesucht ohne gewaltsame Taten vollführt zu haben.
Ende Oktober 2024: ein neuer Plan
In seinem Geständnis gegenüber der Polizei in der Untersuchungshaft wird er später schildern, dass er über Wochen durch Besuche im Café Alex und anderen Orten der Innenstadt Schwachstellen analysiert und die Infrastruktur beobachtet habe. In ihm sei der Wunsch gereift, ein Zeichen zu setzen. Insbesondere weil ihm nach eigener Aussage zwischen Februar und Juli 2024 klar geworden sei, dass er erneut im Zivilprozess unterliegen werde. Am 24. Oktober scheitert er im Berufungsverfahren am Landgericht Köln.
Einen Tag später reist er zurück in seine kleine Wohnung. Dort googelt er nach Testamenten, die später offenbar als Vorlage für sein eigenes dienen sollten, welches am Anschlagstag im Tatfahrzeug gefunden wurde. Am 24. Oktober enden auch seine regelmäßigen Strafanzeigen. Offenbar fasst Taleb A. ab dann einen neuen Plan.
Der Anschlagsplan
Ab dem 21. November gehen die Ermittler von einer Zäsur im Denken und Handeln aus. Taleb A. googelt nach "Bernburg Weihnachtsmarkt", "Bernburg Magdeburg" und nach einer lichtstarken Taschenlampe "to blind enemy". Am 25. November sucht er bei einem Autovermieter nach einem Pkw.
Am 4. Dezember belegen GPS-Daten, dass er sich zwischen 16 und 17:30 Uhr auf dem Areal des Magdeburger Weihnachtsmarktes aufgehalten hat, später auch im Bereich Breiter Weg und Allee-Center. Am Abend schreibt er an seinen neuen Anwalt, der ihm mitteilt, dass sich ein neuer Prozess verzögern wird. Taleb A. antwortet er, dass dies in zwei Wochen passieren muss. Warum, verrät er ihm nicht, aber es habe etwas mit seiner politischen Oppositionsarbeit zutun. Das ist 16 Tage, bevor er den Anschlag begehen wird.
Nur einen Tag später gibt er seinem Anwalt Hinweise, was dieser zukünftig für ihn gegenüber Journalisten verlautbaren solle. Für die Ermittler ein Hinweis, dass er davon ausging, nicht selbst in der Lage zu sein, mit ihnen zu sprechen. Auch den eigenen Tod hat Taleb A. nach Ansicht der Ermittler bereits einkalkuliert.
Die Wochen vor dem Anschlag: Besuche auf dem Weihnachtsmarkt, Übernachtungen in Magdeburg
In den Tagen vom 6. bis 11. Dezember besucht er mehrfach an seinem Wohnort den Bernburger Weihnachtsmarkt, vermutlich um sich ein Bild über Besucherströme zu machen.
Am Abend des 9. Dezember sieht er den Film "Rendition", der sich mit einem Terroranschlag auf einen nordafrikanischen Marktplatz mit 19 Toten beschäftigt. Zwei Tage später bucht er das Tatfahrzeug für den 20. auf den 21. Dezember. Bis dahin wird Taleb A. zehn Mal im Maritim Magdeburg übernachtet haben.
Am 13. Dezember – eine Woche vor der Tat – hält er sich von 14 bis 19 Uhr rund um den Alten Markt auf. Am 17. Dezember bucht er ein Zimmer in einem Golfresort bei Brandenburg, auch für ein Kleinkind. Die Ermittler gehen hier von einem Buchungsfehler aus, da Taleb A. schon in der Vergangenheit falsche Angaben bei der Personenanzahl machte.
20. Dezember 2024: Der Tag des Anschlags
In der Nacht zum 20. Dezember geht Taleb A. spät ins Bett. Um 5:30 Uhr legt er sich schlafen, nachdem er ein Video auf seinem Telegram-Kanal geteilt und Geld nach Dublin überwiesen hat. Um 9:30 Uhr steht er wieder auf, nimmt CBD-Tropfen, Zink und später Pantoprazol. Alle Medikamente geben Hinweise auf hohen Stress und daraus resultierende Magenerkrankungen.
Um 10:22 Uhr sucht er eine Zugverbindung nach Magdeburg heraus und begibt sich ab 13:30 Uhr auf den Weg. Über Köthen reist er an, kommt um 14:36 Uhr in Magdeburg an und fährt mit dem Taxi zum Mietwagenverleih am Uniplatz.
Um 15:47 Uhr verlässt er mit dem BMW X3 die Tiefgarage. Zunächst fährt er eine Proberunde durch die Innenstadt, parkt an verschiedenen Stellen, überweist Geld an einen Verwandten und erkundet ab 16:30 Uhr den Weihnachtsmarkt zu Fuß. Er hebt 300 Euro Bargeld ab, versucht, Videos zu posten, bevor er sich um 18:42 Uhr erneut ins Auto setzt. Um 19:02 Uhr steht er an der Ampel Ernst-Reuter-Allee. Dann beginnt die Tat.
Im folgenden Absatz wird detailliert geschildert, wie der Anschlag abgelaufen ist. Wenn Sie das nicht lesen möchten, können Sie den Absatz hier überspringen und direkt zum Fazit der Ermittler gelangen.
Der Anschlag
Von 19:02:18 Uhr bis 19:03:22 Uhr dauert die Fahrt – 64 Sekunden, 478,8 Meter, Spitzengeschwindigkeit 47 km/h. Die Polizei gliedert die Strecke in vier Abschnitte:
- "Flair": 90,7 Meter, 27 Verletzte. Ohne zu bremsen fährt er über den Radweg in den Breiten Weg, lenkt aktiv in mehrere Personen. Zeugen beschreiben ihn als ruhig und entspannt.
- "Pyramide": 80,2 Meter, 77 Verletzte. Hier beschreiben Zeugen, dass das Fahrzeug schneller wurde. Einige wollen den Fahrer grinsend gesehen haben, andere berichten von Schlangenlinien, um gezielt Menschen zu treffen.
- "Meile": 85 Meter, 104 Verletzte, 3 Tote. Die Masse an Menschen verlangsamt die Fahrt. Zeugen berichten, er habe bewusst große Menschenansammlungen angefahren und auch bereits am Boden liegende Menschen überrollt. Motoraufheulen wird mehrfach beschrieben.
- "Mittelalter": 92,1 Meter, 117 Verletzte, 3 Tote. Trotz massiver Schäden am Auto fährt er weiter. Zeugen berichten von einem starren, teils lachenden Gesichtsausdruck.
Nach weiteren 130,8 Metern auf der Ernst-Reuter-Allee stellen ihn zwei Polizisten. Das Auto ist stark beschädigt. Die Ermittler finden unzählige Spuren der Todesfahrt am Fahrzeug. Im stark beschädigten Wagen findet man sein Testament, in dem er sein Vermögen dem Roten Kreuz vermachen will. Zudem seien seine persönlichen Gegenstände zu vernichten und der Datenschutz zu beachten, so Taleb A.
Keine Reue in der U-Haft
In der Untersuchungshaft prahlt er und gibt an, für weitere Taten bereit zu sein. Er sei stolz auf den 20. Dezember 2024 und er wäre bereit weitere Menschen zu töten. In der JVA Dresden wiederholt er dies. Er verhöhnt seine Opfer, bezeichnet sich selbst als weiteres "Opfer" und fordert zynisch, die Zahl der Verletzten auf 330 zu erhöhen.
Die Ermittler stufen die Tat als Amokfahrt eines Einzeltäters ein, der geständig ist, aber weder Reue noch Mitgefühl zeigt. Sie kommen zu dem Schluss, dass A. weiter eine Gefahr für die Allgemeinheit wäre.
MDR (Lars Frohmüller, Kalina Bunk, Maren Wilczek)
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