Frau Denz, wenn ich mal so fragen darf, sind Sie ein besonders genauer Mensch?

Cornelia Denz: Ich glaube, wenn man Naturwissenschaften studiert hat wie ich, also Physik, und dann auch eine Faible hat für Präzisionsmesstechnik, dann ist man schon ein bisschen genau, aber ich glaube, man ist freundlich genau.

Dass Sie ein Faible für Präzisionsmesstechnik haben, trifft sich ja ganz gut: Sie sind seit 2022 Präsidentin der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Wenn Sie jetzt mal auf so einen ganz ordinären Zollstock blicken, überkommt Sie da ein Gefühl von Trivialität oder von Stolz?

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Sozusagen beides. Das eine ist, dass der Name des Zollstockes auf eine Zeit hindeutet, als wir ganz verschiedene Längeneinheiten hatten. Von der Elle über die Daumenlänge oder die Finger- oder Handlänge. Und dazu gehört auch das Zoll. So nennen wir das heute noch im Umgangssprachlichen, aber eigentlich ist es hier ein Metermaß. Und das Meter ist ja eine der Einheiten für die Länge. Und deshalb ist es toll, dass viele Menschen das nutzen, dem vertrauen, dass der Meter stimmt und dann auch damit indirekt auch der Metrologie und unserem Messverfahren vertrauen.

So kann man das natürlich auch sehen. Wenn man jetzt als Physikerin Präsidentin der grundlegendsten Sache der Physik ist, nämlich dem Messen – hat man dann alles erreicht?

Ich war, wie viele meiner Vorgänger auch, Professorin, in meinem Fall für angewandte Physik, was Laserphysik für verschiedene Anwendungen beinhaltet hatte. Also von daher hat man da auch schon einiges erreicht. Aber als mir das Amt angeboten wurde, hat es mich sehr gefreut, denn tatsächlich ist hier die Wissenschaft auf exzellentem, weltweit höchstem Niveau und gleichzeitig hat die PTB auch eine ganze Menge gesetzlicher Aufgaben, um für die Gesellschaft für die Sicherheit bei den Messungen zu sorgen, insbesondere wenn man dafür auch was bezahlt – beim Gaszähler, bei der Tanksäule oder anderem. Und das macht schon Spaß und erfühlt mich auch mit Stolz, diese Einrichtung leiten zu können.

Meter und Kilo: Neu vermessen, damit sie sich nicht mehr abnutzen

Nun ist Deutschland nicht alleine auf der Welt mit so einer metrologischen Einrichtung. Praktisch jedes Industrieland hat so ein Institut. Das wirft Fragen nach der Sinnhaftigkeit auf – Einheiten sind doch eigentlich klar definiert?

Natürlich, aber dass es in jedem Land ein solches Institut gibt und dass dieses eine Institut vom Staat beauftragt wurde, für die Sicherung der Einheiten und für die moderne Messung dieser Einheiten zu sorgen, zeigt doch, dass alle Länder sich einmal geeinigt haben, dass diese Einheiten das Einzige ist, auf was wir uns beziehen. Und dass wir auch miteinander kooperieren, uns miteinander austauschen, uns miteinander messen – schauen, wer die bessere Messmethode hat –, damit auch weltweit diese Einheiten gesichert sind. Wir kennen uns alle. Und damit ist auch gewährleistet, dass die Einheiten weltweit dieselben sind. Und auch genauso gemessen werden, mit derselben Präzision.

Das klingt nach Friedefreude-Eierkuchen. Gibt es da auch manchmal Verwicklungen. Also dass ein Kilogramm in Übersee plötzlich leichter ist als in Europa?

Das Kilogramm ist eine ganz besondere Sache. Da müssen wir mal 150 Jahre zurückgehen. Damals hat man sich in Paris während der Französischen Revolution überlegt, dass man nicht mehr diese ganz verschiedenen Messverfahren haben möchte für die Länge und auch für das Gewicht. Und deshalb hat man dann das Kilogramm und den Meter eingeführt. Und beide wurden vor 150 Jahren von 17 Ländern akzeptiert. Und dazu hat man einen Platin-Iridium-Stab als Meter definiert und eine Menge, die einem Liter Wasser entsprach, als Kilogramm – auch als eine Legierung aus Metall.

Dann kann man sagen, seit dem Urknall gehen diese Uhren bis heute höchstens eine Sekunde nach

Prof. Dr. Cornelia Denzüber die nächste Uhren-Generation

Und diese hat man in Paris in einem hoheitlichen Gebiet weggeschlossen. Das waren die Originale und jedes Land hat dann eine Kopie bekommen. Durch gewisse historische Verwicklung hat Deutschland drei Kopien. Wenn man diese Einheiten dann mit dem Original vergleicht – das hat man früher für das Kilogramm gemacht – muss man das Kilogramm in Paris aus dem Schrank holen. Wenn das dann aus dem Schrank draußen war, hat man es gemessen und dadurch hat mit der Zeit dieses Kilogramm ein bisschen an Gewicht verloren gegenüber den Kopien.

Das dürfte ein Problem sein.

Um das zu lösen, hat man sich vor einigen Jahren entschieden, dass es ein neues Kilogramm geben soll. Und für dieses neue Kilogramm gibt es jetzt zwei verschiedene Messmethoden: Das eine ist eine Art elektromagnetische Waage, bei der man auf den einen Arm das Gewichtsstück bringt, auf der anderen Seite mit elektromagnetischen Effekten wiegt. Und das zweite ist das Zählen von Atomen aus einem Atomgitter, was man sehr gut kennt. Das machen wir mit Silicium. Man erstellt dann eine Kugel aus Silicium, die exakt einem Kilogramm entspricht, weil man weiß, wie eben so das Atomgitter des Siliciums ist. Diese beiden Methoden konkurrieren noch ein bisschen untereinander, deshalb messen wir immer gemeinsam, versuchen immer besser zu werden, damit dieses neue Kilogramm auch so präzise und exakt ist und noch viel präziser als das alte Kilogramm, das in Paris lag.

Hauptsitz der PTB in BraunschweigBildrechte: PTB

Und das zeigt vielleicht auch, wie die Metrologie arbeitet: Für eine neue Methode vergleichen wir erst so lange untereinander, bis wir uns sicher sind. 2019 hat sich die Metrologie entschieden, um noch präziser messen zu können, zu überlegen, wie es mit den Naturkonstanten ist und was die Naturkonstanten für eine Rolle spielen für die Messung der Einheiten. Und da ist es tatsächlich so, dass Naturkonstanten seit dem Urknall bis heute mit allen Messungen sich eigentlich nicht ändern. Die Lichtgeschwindigkeit ist fest, das kennen ja viele, aber auch viele andere Konstanten. Und für das Kilogramm ist es die Planck'sche Konstante, die eine Rolle spielt. Und diese Planck'sche Konstante ist eben das, was wir messen mit den beiden Methoden. Deshalb können wir auch sehr genau sehen, ob wir sehr präzise gemessen haben.

Also ich nehme für mich als Erkenntnis der Woche mit: Eine Einheit kann sich abnutzen. Außer dem Kilogramm noch andere?

Das waren ja nur die alten Artefakte, als man ein Objekt hatte, das sozusagen das Kilogramm definiert hat. Und das ist nicht mehr so: Die Länge wird gemessen, wie lange sozusagen ein Lichtstrahl braucht mit Lichtgeschwindigkeit. Das wird mit Lasern gemessen, die Zeit wird gemessen mit der Sekunde, die man rückführt auf die Oszillationen zwischen zwei Energieniveaus. Das heißt, wir haben nur noch physikalische Prozesse und die nutzen sich nicht. ab. Die sind immer gleich.

Verletzliche Uhren: Brauchen wir eine Zeitmessung an verschiedenen Orten?

Apropos Sekunden: Die deutsche Zeit wird an Ihnen, der PTB, beziehungsweise den Atomuhren bei Ihnen gemessen. Die Uhrzeit ist, würde ich jetzt mal sagen, im Alltag nichts Banales. Wie geht man denn mit so einer Verantwortung um?

Diese Verantwortung nehmen wir sehr ernst. Wir haben in der PTB eine Reihe von Uhren. Die Uhren, die im Moment am präzisesten gehen, sind sogenannte Caesium-Uhren, die auch gegen die Gravitation ausgeglichen sind. Bei einem Ausfall hätten wir immer noch die anderen, die dann übernehmen können. Die gehen in dreißig Millionen Jahren ungefähr eine Sekunde nach. Wir arbeiten aber schon an der nächsten Generation von Uhren, die dann mit optischen Übergängen gehen, die ungefähr nochmal so einen Faktor tausend besser sind. Dann kann man sagen, seit dem Urknall gehen diese Uhren bis heute höchstens eine Sekunde nach. Es macht das GPS genauer, weil diese Atomuhren eben auch das GPS bestimmen. Es macht viele Zeiten genauer, die wir in der Börse brauchen. Die wir aber auch brauchen, um andere Prozesse zu steuern. Wir wünschen uns, dass das GPS auf den Zentimeter genau ist, und das würde mit optischen Uhren dann der Fall sein. Alle Metrologieländer der Welt treffen sich alle vier Jahre, um solche Themen zu diskutieren. Und bei dem nächsten Mal wird entschieden werden, ob denn die optische Uhr etwas ist, mit dem wir in die Zukunft gehen.

Es gibt viele Frauen, die wir heute nicht mehr kennen, die sogar den Nobelpreis bekommen haben.

Also eine Sekunde Ungenauigkeit seit dem Urknall – damit kann ich gerade eben noch umgehen. Trotzdem müssen Sie mir nochmal erklären: Warum wird die Zeit denn trotz Ihrer sehr guten Uhren nicht lieber dezentral an verschiedenen Standorten in Deutschland gemessen?

Das ist eine politische Entscheidung, das so zu tun. In unserer Welt, in der nicht alles so rosig ist, wie es vielleicht noch vor 10, 15 Jahren war, könnte es durchaus auch einmal sein, dass auch die PTB Opfer eines Cyberangriffs oder Opfer eines anderen Angriffs wird. Wir haben unseren zweiten Standort in Berlin Adlershof – und bei dem jetzigen Stromausfall in Berlin ist auch diese Einrichtung betroffen. Das heißt, wir sehen, dass auch solche Einrichtungen vulnerabel sind. Deshalb wäre es auch unser Credo, zu sagen, wir stellen die Uhren an mehrere Standorte. Unsere europäischen Nachbarn haben Uhren, die genauso gut gehen wie unsere. Und wenn eine ausfällt, dann können wir die sofort auch übernehmen.

Sie wissen wahrscheinlich, warum ich Sie das frage: Ist die Metrologie eine Männerdomäne?

Die Metrologie ist genauso viel oder genauso wenig Männerdomäne wie die Fächer, die sie vertritt. Und wir arbeiten nicht nur in der Physik und auch nicht nur in den Ingenieurwissenschaften, sondern wir haben auch biomedizinische und auch chemisch-organische Methoden, bei denen auch in den Studiengängen oder in den Ausbildungsgängen der Frauenanteil sehr verschieden ist. Wir haben ungefähr 35 Prozent Frauen in der PTB über die verschiedenen Disziplinen hinweg. Was wir aber seit einiger Zeit sehr intensiv möchten, ist, dass Frauen in Führungspositionen mit dabei sind. Da engagieren wir uns sehr stark, deshalb ist unser Frauenanteil auch in den Führungsbereichen im Moment bei zwanzig Prozent. Und das ist, wenn man das mit anderen Einrichtungen vergleicht, gar nicht so schlecht. Aber natürlich können wir besser werden.

Es gibt viele Frauen, die wir heute nicht mehr kennen, die sogar den Nobelpreis bekommen haben. Wir wissen alle, dass Marie Curie den Nobelpreis bekommen hat, aber wissen wir auch, dass Maria Goeppert-Meyer den Nobelpreis bekommen hat für ihr Modell der Kernschalen? Und wissen wir auch noch, dass Donna Strickland den Nobelpreis bekommen hat für ihre Idee, wie man kurze Pulse mit Lasern erzeugen kann?
Also es gibt Frauen, wir müssen sie sichtbar machen und die Frauen, die da sind, müssen wir stärken. Ich glaube, mit den beiden Wegen wird sich der Frauenanteil erhöhen.

Vom Mikrometer zur Mikroaggression

Sie beschäftigen sich seit fast zehn Jahren auf institutioneller Ebene mit Geschlechterforschung in der Physik. Was zählt zu ihren größten Erfahrungen aus dieser Zeit?

Was man sicher sieht, ist, dass Frauen oft noch damit zu kämpfen haben, dass man ihnen sagt: "Als Frau kannst du ja das ganz gut, ist ja überraschend", "Du siehst ja gar nicht aus wie eine Naturwissenschaftlerin, du siehst ja viel besser aus". Wir nennen es Mikroaggressionen, dass in vorteilhafte, lobverpackte Dinge gar nicht so lobend für die Frau sind. Oder Werbung für MINT: Wir wollen ja auch junge Frauen für MINT gewinnen, bei denen aber dann eine Frau herausgestellt wird als Beispiel. Aber alle das Gefühl haben: Gibt es denn noch mehr Frauen dabei? Warum werden jetzt nicht mehrere Frauen dargestellt Diese sehr subjektiven Gefühle von Frauen, dass da noch Benachteiligung sind, dem müssen wir uns auch stellen, weil wir zum Schluss wollen, dass Frauen sich auch wohlfühlen in den Fächern, die wir bewerben und wo wir mehr Frauen haben wollen.

Ärgert es Sie, dass wir darüber erst in der zweiten Hälfte des Interviews sprechen?

Also was eigentlich für mich wichtig ist, ist, dass wir ganz geschlechtsneutral über alle diese Themen sprechen, die in der Forschung wichtig sind. Und dass man manchmal dann darüber sprechen muss, dass Frauen nicht so oft vorkommen, das gehört auch dazu. Es würde mich eher stören, wenn wir nur darüber sprechen und nicht über die fachlichen Dinge, die eigentlich so wichtig sind und die auch Frauen genauso begeistern wie Männer und über die sie eigentlich auch gerne sprechen wollen. Also von daher ist es schon so die richtige Reihenfolge.

Dann richten wir uns zum Schluss noch mal an alle: Was wünschen Sie sich denn von unserer Gesellschaft, von den Jungs und von den Mädels?

Ich sehe eine junge Generation, die sehr aufmerksam ist und sehr sensibel, die für sich selbst eine gute Work-Life-Balance einfordert, die für sich selbst einfordert, dass man die Personen, die berufstätig sind, mit all ihren Qualitäten, mit all ihren Begabungen sieht, ganz unabhängig vom Geschlecht. Was sie aber auch einfordern, ist, dass wir auch schauen, dass wir diverse Gruppen sind, dass wir eben jede Person unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität, aber auch von ihrer Herkunft oder von ihren anderen sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen akzeptieren und mitintegrieren. Und auch diese Forderung ist sehr gut. Denn diverse Menschen, wenn sie alle gleichberechtigt sind, haben viele verschiedene Ideen mit vielen verschiedenen Hintergründen. Also von daher bin ich ganz optimistisch, dass auch die nächste Generation uns noch mehr lernen lässt, aufmerksam zu sein und bessere Rahmenbedingungen zu schaffen. Und deshalb gucke ich ganz optimistisch in die Zukunft.

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