Geburtskliniken ohne Kinderärzte: Was, wenn es Komplikationen gibt?
- Sabrina Spenglers Tochter Joleen stirbt an den Spätfolgen der Geburt – Kinderärzte sind zu spät hinzugerufen worden.
- Der Neonatologe Mario Rüdiger hat ein Kompetenznetzwerk aufgebaut – somit werden Kliniken ohne Kinderärzte gestärkt.
- Bei der Geburt von Felix entscheidet der Kinderarzt zu spät, dass er per Kaiserschnitt geholt werden muss – mit schweren Folgen für Felix.
Sabrina Spengler hat ihre Tochter in Köthen in Sachsen-Anhalt in einem Krankenhaus der niedrigsten Versorgungsstufe entbunden – also ohne Kinderarzt und als Risikoschwangere. Bewusst war ihr beides nicht. Auch ihr Kind musste reanimiert werden. Den Unterlagen zufolge musste sie fast drei Stunden auf die Kinderärztin warten. "Ich konnte gerade mal so noch das Händchen von meiner Tochter halten", erinnert sich Spengler.

Die Ärztin sei zusammen mit ihren zwei Assistenten in das Zimmer gekommen und habe sich das Kind angeschaut. Die Ärztin habe die Assistenzärztin der Klinik angeguckt und Spengler zufolge gesagt: "Der Beatmungsschlauch liegt doch gar nicht richtig, da pfeift doch alles dran vorbei". Danach sei sie für eine halbe Stunde raus aus dem Zimmer auf dem Flur geschoben worden.
Joleen erleidet Hirnschäden bei der Geburt
Tage später, in der Uniklinik Halle, bekamen die Eltern erstmals Informationen über den Zustand ihrer Tochter. "Die Oberärztin, die hat uns gesagt, wir wissen nicht, ob sie es überhaupt schafft. Und an Ihrer Stelle, würde ich Anzeige erstatten, würde ich klagen. Und das haben wir dann auch gemacht", erzählt Spengler. Joleen überlebte, erlitt aber durch die Hirnschädigungen immer wieder Lungenentzündungen. Im März 2017 verschlechterte sich ihr Zustand immer weiter. Spengler musste erneut mit der Tochter ins Krankenhaus. "Die waren fertig mit Röntgen und ich sehe auf einmal, wie an dem Monitor diese Sauerstoffwerte anfingen, runter zu schnellen. Dann haben wir sie noch einmal in den Arm genommen. Und dann ist sie unserem Arm verstorben."
Ein Gutachten bestätigt: "Der eingetretene Schaden des Kindes wäre durch ein besseres geburtshilfliches Management mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermeidbar gewesen." Das Krankenhaus muss der Familie Schmerzensgeld zahlen, im hohen sechsstelligen Bereich.
Kinderärzte machen Geburten sind sicherer
Die Säuglingssterblichkeit in Deutschland ist im europäischen Vergleich nur durchschnittlich. Bundesweit starben 2022 3,2 Säuglinge im Alter von bis zu einem Jahr auf 1.000 Lebendgeborene. In Frankreich ist die Situation schlechter (4,0 Säuglinge). Besser stehen Belgien (2,9), Österreich (2,4) und Tschechien (2,3), sowie die skandinavischen Länder Schweden (2,2), Finnland (2,0) und Norwegen (1,9) da.

Die Qualität der Neugeborenenversorgung in Deutschland wird deswegen immer lauter kritisiert – von Fachgesellschaften und Medizinern. Einer von ihnen ist der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin und Leiter der Neonatologie der Uniklinik Dresden, Professor Mario Rüdiger. Er sieht einen Zusammenhang zwischen dem durchschnittlichen internationalen Abschneiden und der Krankenhaus-Landschaft in Deutschland. Denn die ist geprägt von vielen kleinen Kliniken, die keine Kinderärzte vor Ort haben.
Ich bin fest davon überzeugt, dass eine Geburt nur dort stattfinden sollte, wo ein Kinderarzt vorhanden ist.
"Ich bin fest davon überzeugt, dass eine Geburt nur dort stattfinden sollte, wo ein Kinderarzt vorhanden ist", betont Rüdiger. "Unter der Geburt kann es immer zu Problemen kommen und die sind nicht voraussehbar. Jedes Kind hat das Recht auf eine adäquate Versorgung. Und wenn diese Versorgung erst nach einer halben Stunde oder nach einer Stunde beginnt, dann ist diese Phase einfach eine hochkritische Phase."

Die Politik könnte vorschreiben, dass Geburtshilfe nur noch in Kliniken mit Kinderärzten stattfindet. So empfiehlt es auch die Regierungskommission der Bundesregierung, die bei der Erarbeitung der Krankenhausreform einbestellt wurde.
NRW setzt auf Nähe statt Empfehlung aus Krankenhausreform
Seit Anfang April gilt in Nordrhein-Westfalen der neue Krankenhausplan, in Anlehnung an die bundesweite Krankenhausreform. Doch die Empfehlung, Geburtshilfe nur an Standorten mit Kinderarzt anzubieten, wird hier nicht umgesetzt. Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann erklärt, es sei die eine Seite, die Fallzahlen aus Sicht der Wissenschaft so aufzuschreiben. Auf der anderen Seite müsse man mit den Realitäten umgehen. "Wenn ich an das Sauerland denke, wenn ich an einen Teil des Münsterlandes denke, dann würden die Entfernungen so groß. Das können Sie auch niemandem erklären", erklärt der CDU-Politiker.
Nordrhein-Westfalen hat insgesamt 125 Kliniken mit Geburtsstationen. Jede zweite (52 Prozent) gehört zum sogenannten Level 4 Standard, dem niedrigsten Versorgungslevel. Ähnlich ist es in Bayern (56 Prozent), Hessen (60 Prozent), Baden-Württemberg (54,4 Prozent) und Niedersachsen (50,8 Prozent). Dagegen ist der Anteil von Level 4 Kliniken mit Geburtsstationen in Sachsen (16,1 Prozent), Thüringen (15,8 Prozent), Sachsen-Anhalt (17,6 Prozent) und Brandenburg (13,6 Prozent) deutlich niedriger.

Kompetenznetzwerk bietet Beratungen an
Der Leiter der Neonatologie der Uniklinik Dresden, Mario Rüdiger, will deswegen hochqualifizierte Medizin in ländliche Regionen bringen. Er baute 2022 ein regionales Kompetenznetzwerk in Sachsen auf. Sieben zum Teil kleinere Krankenhäuser und die Uniklinik Dresden sind Partner des Netzwerks. Finanziert wird es vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses. In dem Netzwerk werden Fälle zu Risikoschwangeren besprochen. Wenn nötig, übernimmt die Uniklinik Dresden Entbindung und Erstversorgung. Mutter und Kind werden danach in die wohnortnahe Klinik verlegt. Bei Notfällen kann die Uniklinik dazu gerufen werden.
"Da hilft es, wenn man denen sozusagen über die Schultern schaut und einen kleinen Tipp geben kann", sagt Rüdiger. Alleine in dieser Phase des Projektes hätten mindestens vier Kinder davon profitiert, dass sie nicht eine halbe Stunde oder Stunde auf den Kinderarzt warten mussten. Die Unterstützung des Kompetenznetzwerkes hätte vielleicht auch bei der Geburt von Suleika Tannigels Sohn helfen können.
Keine Kinderärzte im Geburtshaus
Die Familie Tannigel lebt in Ostfriesland. Auf dem Trampolin hüpft Falko mit seinem Sohn Felix. Er ist sieben Jahre alt. Aber alleine hüpfen kann er nicht, sein Vater muss ihn halten. Er hat seit seiner Geburt eine schwere Behinderung. Er kann nicht laufen, eigenständig essen, trinken und nicht sprechen. Bei der Geburt erlitt er einen schweren Sauerstoffmangel und wurde einem Gutachten zufolge nicht richtig reanimiert. Auch in diesem Fall war ein Kinderarzt zu spät vor Ort.
Es hieß bei der Kreißsaalbegehung: Wenn was sein sollte, die Kinderärzte sind ganz schnell vor Ort

Die Mutter von Felix, Suleika Tannigel, hatte sich damals entschieden, in einer Geburtsklinik der untersten Versorgungsstufe, zu entbinden. Ein Krankenhaus, in dem generell keine Kinderärzte vor Ort sind. "Das strahlte so eine Gemütlichkeit aus", erklärt Suleika. "Es hieß dann ja auch bei der Kreißsaalbegehung: Und wenn dann was sein sollte, die Kinderärzte sind ganz schnell vor Ort." Es kam jedoch anders.
Notwendiger Kaiserschnitt kam zu spät für Felix
Die Geburt wurde am 5. April 2018 eingeleitet. Was zu dem Zeitpunkt scheinbar keiner wusste: Offenbar versorgte die Plazenta das Kind nicht mehr ausreichend. Somit war Suleika Tannigel eine Risikoschwangere. Den Leitlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses zufolge hätte sie in ein größeres Krankenhaus verlegt werden sollen. Die Richtlinie ist jedoch keine Vorschrift, sondern nur eine Empfehlung.
Suleika Tannigel erinnert sich: "Er war wohl sehr ruhig und hat sich nicht mehr viel bewegt. Und er war wohl immer am Schlafen. Die haben ganz oft an meinem Bauch gerüttelt." Laut Protokoll fielen die Herztöne ab – mehrfach. Ein Kaiserschnitt wäre notwendig gewesen, heißt es in dem Gutachten. Der leitende Arzt wurde demnach informiert, er entschied jedoch abzuwarten. Der Kaiserschnitt erfolgte zu spät.
Protokoll ist nicht vollständig
Dann sei es hektisch geworden, fasst die Mutter zusammen. "Ich habe gemerkt, wie die Felix quasi aus mir herausgerrupt haben. Und dann kippte wirklich die Stimmung. Die sind im Nebenraum verschwunden." Felix konnte wiederbelebt werden – vermutlich von einem Anästhesisten. Vermutlich jedoch falsch. Es fehlten Angaben im Protokoll. Eine halbe Stunde später trafen demnach Kinderärzte ein. Da war der Zustand von Felix unverändert kritisch.
"Es steht ja in dem Protokoll. Als sie ihn auf die Welt geholt haben war er weiß. Er war nicht mal mehr blau, er war weiß", sagt Suleika Tannigel. Es stand so ernst um Felix, dass er schließlich in einem großen Klinikum weiterbehandelt werden musste. Zu dem Zeitpunkt hatte sie ihren Sohn immer noch nicht gesehen. "Ab da hatte ich wirklich jede Minute Angst, dass mein Kind stirbt, ohne dass ich es kennengelernt habe", erklärt sie.
Felix überlebt – mit schweren gesundheitlichen Folgen. Die Familie hat auf Schmerzensgeld geklagt. Das Urteil steht noch aus.
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