"Das erinnert fatal an die Zeit der deutschen Judenverfolgung und Judenvernichtung"
MDR AKTUELL: Wie haben Sie die Ausladung der Münchner Philharmoniker und deren israelischen Dirigenten diskutiert?
Giovanni di Lorenzo: Wir haben es diskutiert, aber meine persönliche Reaktion war erstmal Ungläubigkeit. Ich hätte mir sowas nicht vorstellen können, nicht jetzt.
Mit "jetzt" meinen Sie genau was?
Zu dem jetzigen Zeitpunkt. Dass Lahav Shani ausgeladen wird in seiner Eigenschaft als Israeli und Jude, das sind Entscheidungen, die für mich immer nur in Albträumen vorgekommen sind, aber nicht als reales Erlebnis. Und es ist ja eingebettet in andere Vorfälle dieser Art. Denken Sie nur an die Diskussion, die jetzt geführt darüber wird, ob Israel, bzw. ein israelischer Künstler oder eine Künstlerin, beim ESC auftreten darf.
Oder denken Sie daran, wie es Jüdinnen und Juden in Deutschland im Moment geht. In meinem eigenen Freundeskreis ist jetzt ein junges Elternpaar, das das Kind einschulen möchte und bei der städtischen Schulberatung den Ratschlag bekommt: "Den jüdischen Namen bitte hier nicht einschulen, das ist zu unsicher. Da gibt es doch noch so eine evangelische Schule und eine International School, da ist vielleicht ihr Kind besser aufgehoben." Diese Form von Sippenhaftung für das, was Netanjahus Regierung in Gaza anrichtet, das hätte ich mir, wie gesagt, nicht träumen lassen.
Das war Ihre Meinung, Ihre erste Reaktion. Wie ist das in der Redaktion dann gewesen?
Ich glaube, dass gerade in dem Fall Shani – und so ist es ja auch auf allen Kanälen bei uns kommentiert worden – die Einschätzung nicht anders ist als meine.
Purer Antisemitismus, kann man das so formulieren, muss man das so formulieren oder geht das zu weit?
Weil Sie gerade gesagt haben, das wäre meine Meinung ... Was ist denn Ihre Meinung? Was ist es denn, wenn es kein Antisemitismus ist?
Darüber ist nachzudenken. Ich denke auch darüber nach, was möglicherweise die Festivalmacher bewogen haben mag, in dieser Situation eine Position zu finden, die auch an den Krieg, an das Leid, an die Palästinenser denken, ausgelöst durch diese israelische Regierung.
Und dafür haften dann Bürger und Bürgerinnen des Landes oder Jüdinnen und Juden, die hier in Deutschland leben? Wie ist das gemeint, was Sie fragen?
Ich würde gerne wissen wollen, wie viel Verständnis Sie für die Situation der Veranstalter in Belgien möglicherweise haben, die offenbar auch versucht haben, hier sich eine Meinung zu bilden und möglicherweise einen Weg gefunden haben, der nicht allen gefällt.
Ich kann nur auf die Begründung verweisen, die die Festivalleitung in Gent gegeben hat. Das Eine ist – und es klingt wahnsinnig zynisch, das zu sagen – dass sie nicht für die Sicherheit der Musiker und der Besucher garantieren können.

Und dann, dass das Festival nicht heiter genug sein könnte. Das erinnert fatal an etwas aus der ganz finsteren Zeit der deutschen Judenverfolgung und Judenvernichtung: dass nämlich Juden eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit darstellen. Das erinnert mich verdammt daran.
Und die Erwartung, dass sich Shani zu einer Verurteilung vorher bereit erklären muss, obwohl Shani – ich finde die Forderung schon absurd. Aber offenbar in völliger Missachtung der Tatsache, dass Shani sich ja geäußert hatte, zum Beispiel im vergangenen Jahr bei den Kolleginnen und Kollegen der Süddeutschen Zeitung. Als Mann der Versöhnung, alles andere als jemand, der zum Krieg in Gaza aufruft. Jemand, der eine Rolle gespielt hat bei dem israelisch-palästinensischen, dem jüdisch-palästinensischen Orchesterprojekt von Daniel Barenboim. Und der muss aber erst eine Erklärung abgeben. Das fühlt sich doch sehr wie Sippenhaft an.
Muss der Versuch – und so interpretiere ich das ja auch – eine Haltung zu erzwingen, jemanden dazu zu nötigen, Stellung zu beziehen, muss so etwas scheitern?
Ich glaube, dass das erstmal auf individueller Ebene natürlich sehr viel Reaktanz auslöst, weil das wie eine Erpressung empfunden wird. Aber in dem Fall jetzt in Gent ist es auch grundfalsch. Und vielleicht haben Sie auch gesehen, wie die Veranstalter in Luxemburg reagiert haben oder was die vorhaben: Dass sie nämlich für den 9. November das Israel Philharmonic Orchestra unter Leitung von Shani eingeladen haben und da offenbar überhaupt keine Sorge um die Heiterkeit oder die Sicherheit haben.
MDR AKTUELL
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