Selten beobachtet die Bundesrepublik Kommunalwahlen so genau wie die heute in NRW. In 147 Städten und Kreisen werden in Stichwahlen neue Bürgermeister und Landräte bestimmt. Auch in Gelsenkirchen.

Vor allem in Gelsenkirchen oder Hagen rechnet sich die Alternative für Deutschland (AfD) gute Chancen aus, den ersten Oberbürgermeister im Westen zu stellen. Selbst wenn ihr eigener NRW-Landeschef noch vor ein paar Wochen gesagt hat, dass er dies eigentlich für unwahrscheinlich hält.

Gelsenkirchen gilt als eine der ärmsten Kommunen Deutschlands und ringt um seine Zukunft. Die einstige SPD-Hochburg, gezeichnet von einer der höchsten Arbeitslosenquoten, in der fast jedes zweite Kind von Armut bedroht ist, steht vor einem politischen Neuanfang. Die jüngste Kommunalwahl hat die traditionelle Machtverteilung zerschlagen: SPD und AfD zogen nahezu gleichauf in den Stadtrat ein. Nun entscheidet die Stichwahl um das Oberbürgermeisteramt, wer von beiden die Ruhrgebietsstadt in den nächsten fünf Jahren führt.

Auf den ersten Blick scheint das Leben in der Stadt intakt - ein paar belebte Cafés, Menschen bummeln durch die Stadt. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich ein anderes Bild: Leerstand und Armut prägen das Stadtbild. Die Wählerinnen und Wähler sind gespalten, die langjährige Loyalität zur SPD bröckelt.

Vor der Stichwahl in NRW: Die Lage in Hagen

Ingrid Bertram, WDR, tagesschau, 27.09.2025 20:00 Uhr

Wut, Frust und der Ruf nach Veränderung

Der Frust der Menschen entlädt sich an den Wahlurnen. Die Gründe für den tiefgreifenden Wandel sind vielschichtig. Für einige liegt die Antwort in der Zuwanderung. Auch für Ismael, den wir in der Stadt treffen und der unverblümt erklärt: "Ich habe selber Migrationshintergrund, aber ich bin für die AfD." Weil hier zu viele Ausländer lebten - "die auch gar nicht hier reingehören, meiner Meinung nach."

Andere sehen die Ursachen in der wirtschaftlichen Talfahrt. Robert, ein gelernter Koch, der seit sechs Wochen obdachlos ist, glaubt weiterhin an die SPD. Doch die Situation in der Gastronomie sei fatal - kaum einer hätte hier noch Geld, um Essen zu gehen. Deshalb habe er auch seinen Job verloren.

AfD-Wahlergebnisse als "Hilferuf an die Politik"

Um die vielen armen Menschen in der Stadt kümmert sich das Team der Caritas. Die Streetworkerinnen Nathalie Erbach und Daniela Gordon-Heldt teilen saubere Spritzen an Drogenabhängige aus. Sie beobachten eine Zunahme von psychischen Erkrankungen und Depressionen, oft noch als Folge von Corona.

Schnell folge der Verlust des Jobs oder der Wohnung. Gleichzeitig gebe es viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum für Bürgergeldempfänger - obwohl es angesichts der hohen Leerstandsquote eigentlich genügend Wohnungen geben müsste.

Auch wenn die beiden Sozialarbeiterinnen Gelsenkirchen für sehr lebenswert halten, beobachten sie den Stimmungswandel hin zur AfD im ganzen Ruhrgebiet. "Es ist ein Hilferuf an die Politik, dass für arme Kommunen, sei es Duisburg oder Gelsenkirchen, etwas getan werden muss," sagt Gordon-Heldt.

Armut zieht Armut an

Nicht weit vom Rathaus entfernt bekommen Obdachlose eine warme Mahlzeit. Ihre Zahl nimmt zu. Und die Sozialarbeiter registrieren einen besorgniserregenden Trend: Die Stadt ziehe arme Menschen an. Christoph Fuß von der Caritas erklärt den Mechanismus: Wer Sozialhilfe beziehe, ziehe lieber in die Stadt, wo er in einer größeren Menge nicht so negativ auffalle wie in wohlhabenderen Städten. Auch wenn es bitter klingt - Armut zieht offenbar Armut an.

Diesen fatalen Kreislauf versuchen Stadt und engagierte Bürger zu durchbrechen. Im Stadtteil Ückendorf sollen Kulturangebote für Aufbruch sorgen: Die Stadt kauft Schrottimmobilien auf und schafft Raum für Kulturschaffende. Buchhändler Lukas Hermann kämpft gegen die Resignation an. "Es wird hier versucht, dem Irrglauben entgegenzuwirken, dass Gelsenkirchen eine Stadt ist, die keine Chance mehr hat", sagte er. "Man muss diesen Irrglauben vertreiben."

Die Themen der Stichwahl: Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit

In der anstehenden Stichwahl spiegeln sich die Sorgen und Probleme der Stadt wider. Beide OB-Kandidaten setzen im Wahlkampf auf Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit. Der AfD-Kandidat Norbert Emmerich, gelernter Bankkaufmann, stellt zudem die städtischen Finanzen in den Fokus: "Wir brauchen solide Finanzen. Da muss jede Ausgabe geprüft werden, darauf ob sie zielführend ist, ob sie Sinn macht", fordert er.

Die SPD-Kandidatin Andrea Henze, die auch für die Grünen antritt, sieht ihre zentrale Aufgabe in der Versöhnung einer zerrissenen Stadtgesellschaft: "Ich weiß ganz genau, dass das eine der ersten Aufgaben sein wird, Menschen wieder zu verbinden, den Stadtrat wieder zu verbinden, damit wir wieder für die Stadt Lösungen finden können", sagt sie. Trotz aller Differenzen eint in Gelsenkirchen alle Akteure ein Konsens: Ein "Weiter so" darf es in nicht mehr geben. Die Stichwahl wird zeigen, welcher Weg zur dringend benötigten Wende eingeschlagen wird.

Grüne Themen verlieren an Bedeutung

Die Grünen, die vor fünf Jahren nicht nur in Groß- und Uni-Städten triumphierten, sind mit deutlichen Verlusten aus dem ersten Wahlgang vor zwei Wochen gegangen. Viele Analysen deuten darauf hin, dass die Bedeutung ihrer zentralen Themen Umwelt und Klimaschutz für die Wählerinnen und Wähler stark abgenommen hat. In vielen Städten, in denen die Grünen die Stichwahl erreicht haben, stehen sie nun vor einer schwierigen zweiten Runde.

In Bonn muss die grüne Amtsinhaberin Katja Dörner in die Stichwahl gegen den CDU-Kandidaten Guido Déus, der im ersten Wahlgang leicht vorne lag. In Köln, wo die bisherige Oberbürgermeisterin nicht mehr antrat, kämpft die grüne Kandidatin Berîvan Aymaz in der Stichwahl gegen den SPD-Kandidaten Torsten Burmester ums Amt. Der CDU-Kandidat hatte in der Domstadt keine Chance.

CDU und SPD in einer Frage einig

Auf Landesebene war die CDU allerdings die Wahlgewinnerin. Ministerpräsident Hendrik Wüst sprach nach der ersten Runde vor zwei Wochen von einem "tollen Ergebnis" und betonte die Rolle der CDU als "Kommunalpartei Nummer Eins". Gleichzeitig mahnte er mit Blick auf die AfD, dass dieses Ergebnis "zu denken geben" müsse und alle demokratischen Parteien aufgerufen seien, die Probleme des Landes zu lösen.

Und aufgrund der AfD-Zugewinne zeigten sich auch die beiden ehemaligen Volksparteien CDU und SPD einig: Es gelte, eine "Brandmauer" gegen die AfD zu errichten. Ministerpräsident Wüst stellte klar: "Wenn jemand von der AfD in der Stichwahl ist und jemand von einer demokratischen Partei, dann wissen Demokraten, was zu tun ist." Ob die Wählerinnen und Wähler dieser Aufforderung folgen oder vielleicht einfach zu Hause bleiben, dürfte in einigen Kommunen heute entscheidend sein.

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