18 Jahre alte Flaschenpost entschlüsselt
Wo KI gescheitert ist, hat Recherche zum Ziel geführt: Eine Zusammenarbeit des NDR-Studios Flensburg und des ARD-Studios London hat den Absender einer Flaschenpost gefunden, die vor sieben Jahren auf Sylt angespült wurde.
Malte Bayer macht regelmäßig Urlaub auf Sylt - so auch 2018. Als er vor sieben Jahren eines Tages am Strand von Hörnum spazieren geht, entdeckt er eine Flasche im Sand: Von außen sieht sie ziemlich verwittert aus, nach innen scheint aber kein Wasser gedrungen zu sein. Er dreht den Korken ab und zieht einen gelben vorgedruckten Zettel heraus, den jemand handschriftlich ausgefüllt hat. England ist zu lesen, viel mehr kann Bayer nicht entziffern. Er nimmt die Flaschenpost mit in seine Ferienwohnung, wo sie vorerst als Deko liegenbleibt.
Vor etwa einem Monat fällt sie ihm wieder in die Hände. "Es war kompletter Zufall", sagt er. "Ich wollte nur gucken, ob der Zettel inzwischen verblichen ist." Alles ist noch gut zu erkennen, lesen kann er die Handschrift trotzdem nicht.

Malte Bayer reist regelmäßig aus dem Schwarzwald nach Sylt, um dort Urlaub zu machen.
Künstliche Intelligenz führt auf eine falsche Fährte
Da Bayer in seiner Heimat im Schwarzwald eine Marketing-Agentur betreibt und beruflich viel mit künstlicher Intelligenz arbeitet, kommt er auf eine Idee: "Wenn KI Hieroglyphen in alten Pyramiden entziffern kann - warum dann nicht auch eine sieben Jahre alte Flaschenpost?", sagt er und macht sich an die Arbeit.
Er fotografiert die Nachricht ab und lädt sie in verschiedene KI-Programme. Sogenannte multimodale KI-Modelle können gleichzeitig verschiedene Daten wie etwa Text und Bilder verarbeiten und integrieren. Bayer hofft so auf Hinweise zum Absender der Flaschenpost zu gelangen.
Doch die KI schickt ihn auf eine falsche Fährte: Demnach soll es sich um eine Absenderin handeln, die Linda heißen und zum Absende-Zeitpunkt etwa 13 bis 17 Jahre alt sein soll. Nur England entziffert die KI korrekt. Auch beim Absendeort liegt die KI daneben und geht von der englischen Südküste aus.
KI-Experte Neuhaus: Ergebnisse mit Vorsicht behandeln
Bayer geht mit seinen Hinweisen an die Öffentlichkeit und hofft auf weitere Hinweise. Auch der NDR berichtet über den Fall. Dort analysieren die Journalisten den Brief zusätzlich selbst in verschiedenen KI-Programmen und kommen bereits auf andere Ergebnisse. Demnach könnte es auch eine Absenderin oder ein Absender mit dem Namen Maddy oder Addy sein. Relativ sicher scheint auch die Adresse zu sein: Eastern Avenue in Reading, England.
Der Informatiker Uwe Neuhaus beschäftigt sich an der Europa-Universität Flensburg mit künstlicher Intelligenz, auch er analysiert das Schreiben für den NDR. Rückschlüsse auf das Alter der Verfasserin oder des Verfassers hält er nur anhand der Handschrift und Formulierungen für unwahrscheinlich, da lediglich Name, Datum und Adresse angegeben wurden.
Grundsätzlich sei das zwar möglich, so Neuhaus, "die Modelle können aber auch nicht zaubern. Bei sehr unleserlichen Handschriften oder einer schlechten Bildqualität müsse auch die KI "raten", formuliere ihre Antwort aber dennoch oft "ausgesprochen selbstsicher". Deshalb seien die erzielten Ergebnisse mit Vorsicht zu behandeln.
NDR-Studio Flensburg und ARD-Studio London kooperieren
Die Journalisten des NDR in Flensburg kontaktieren im nächsten Schritt das ARD-Studio in London, die mithilfe der bisherigen Indizien Adressverzeichnisse durchforsten. Gleichzeitig teilen die Flensburger ihren Artikel in sozialen Medien, insbesondere in Gruppen, die die Stadt Reading in der Grafschaft Berkshire betreffen. Und die Unterstützung aus England ist groß: Der Artikel verbreitet sich schnell weiter, wird an Stadtteil- und Nachbarschaftsgruppen geleitet - und erreicht so schließlich auch den tatsächlichen Absender: Adam Tyndall.
Tyndall war elf Jahre alt, als er die Flasche während eines Frankreich-Urlaubs mit der Familie im kleinen Agon-Coutainville in der Normandie in den Atlantik geworfen hat. "Ich glaube, jemand sie mir zum Geburtstag geschenkt", erinnert sich der heute 28-Jährige, als ihn eine Journalistin aus dem ARD-Studio London am Telefon erreicht. "Ich dachte damals, sie würde für immer im Meer bleiben."
Doch die Flasche bleibt elf Jahre unterwegs, schwimmt vom Atlantik bis in die Nordsee und erreicht schließlich Sylt - bis Malte Bayer sie schließlich findet. "Das zeigt, dass wir in Europa doch nicht so weit entfernt sind voneinander, wie es immer scheint", freut sich Tyndall.
Jetzt haben sich die beiden erstmals getroffen, zumindest virtuell in einem Online-Meeting: Adam Tyndall in London und Malte Bayer im Schwarzwald. Und sie wollen in Kontakt bleiben - per Mail, per Brief oder, wie Adam vorschlägt: per Flaschenpost.
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